Das Schweigen der Schwaene
liegen, dann kriegen Sie
sofort einen Rückfall, das garantiere ich.« Er stand auf. »Und jetzt schlafen Sie ein bißchen. Soll ich Ihnen was verschreiben, oder geht es auch so? «
»Es geht auch so.« Schlafmittel führten dazu, daß sie in tiefen Schlaf versank, und tiefer Schlaf brachte immer die Träume zurück. Wenn sie hingegen nur schlummerte, gelang es ihr manchmal, dem Grauen zu entfliehen.
Nachdem Joel gegangen war, lag sie noch lange wach in ihrem Bett.
Ihr Zorn löste sich langsam auf. Die Neuigkeit, daß sie für tot erklärt worden war, hatte zunächst Empörung in ihr wachgerufen, als hätte Tanek ihr ihren Hintergrund geraubt, die Grundlage des Menschen, der sie war.
Oder gab es diese Grundlage vielleicht sowieso nicht mehr? Sie war nicht mehr die Frau, die sie auf Medas, oder das Kind, das sie in North Carolina gewesen war.
Sie sollte noch einmal darüber nachdenken, hatte Joel gesagt.
Also gut, welche Konsequenzen hatte dieses
Täuschungsmanöver für sie? Was war, wenn alle dachten, sie wäre tot? Oberflächlich betrachtet schien es eine Katastrophe zu sein. Sie hätte keine Kreditkarten, keinen Führerschein, keinen Paß. Sie käme nicht an das Geld heran, das ihr von ihrer Mutter hinterlassen worden war und stünde ohne jede Barschaft da.
Und persönlich? Auf keinen Fall würde sie von irgendjemandem vermißt. Sie hatte keine Familie mehr, und ihre Freunde aus der Collegezeit hatte sie aufgegeben, als sie Richards Frau geworden war. Von der Zeit an hatte er ihr Leben beherrscht, und für irgendwelche Freundschaften hatte sie keine Zeit mehr gehabt.
Beherrscht? Instinktiv scheute sie vor diesem Wort zurück, doch dann zwang sie sich, zurückzukommen und genauer hinzusehen.
Von nun an gäbe es keine Lügen und kein Fortlaufen mehr. Es mochte eine wohlwollende Diktatur gewesen sein, aber Richard hatte ihr Leben beherrscht. Er hatte nicht gewollt, daß sie andere Kontakte knüpfte.
Jetzt mochte ihr Alleinsein von Vorteil sein. Sie wäre beweglicher, wenn jeder dächte, sie wäre tot. Und außerdem böte sie wohl kaum noch ein Angriffsziel.
Falls sie je ein Angriffsziel gewesen war. Vielleicht hatte Kabler recht, und sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort aufgetaucht. Nichts anderes ergab einen Sinn.
Aber Tanek dachte nicht, daß der Angriff gegen sie ein Zufall gewesen war.
Warum sollte sie Tanek glauben, Kabler aber nicht? Kabler war ein respektabler Beamter, wohingegen Tanek offensichtlich ein Krimineller war. Waren Kablers vernünftige Erläuterungen nicht wichtiger als die überwältigende Aura ruhigen Selbstvertrauens, die Tanek umgab?
Nein. Wider alle Vernunft wußte sie, daß sie bei Tanek in besseren Händen war. Was interessierte es sie, ob er ein Verbrecher war? Das einzig Wichtige war, daß er in der Lage war, ihr bei der Suche nach Gardeaux und Maritz behilflich zu sein. Vielleicht wäre es sogar von Vorteil für sie, wenn er ein Krimineller war. Tanek waren die Gesetze egal, an die Kabler gebunden war. Er bot ihr das, was Kabler zufolge unmöglich war.
Rache für den Mord an Jill.
»Kabler war heute hier«, sagte Joel in den Hörer seines Tele fons. »Soviel also dazu, daß du ihn mir vom Leib zu halten versprochen hast.«
»War er bei Nell? « fragte Nicholas.
»Phil zufolge hat er sie im Fitneßraum erwischt. Er hat ihr erzählt, daß sie nicht mehr unter den Lebenden weilt.«
»Und wie hat sie darauf reagiert? «
»Sie hat mich in der Luft zerrissen. Und sie will sofort die erforderlichen Formulare haben, damit sie wieder eine von uns Lebenden wird.«
»Rede ihr das aus.«
»Das machst wohl besser du. Ich hoffe nur, daß du dich auf der Stelle in Bewegung setzt. In drei Tagen entlasse ich sie.«
»Ich komme.«
»Wie, kein Protest, weil ich sie laufenlassen will? «
»Wozu? Ich wußte, eines Tages wäre es soweit. Ich hatte nur gehofft, ihre Entschlossenheit ließe bis dahin etwas nach.«
»Dann mach dich auf eine Überraschung gefaßt. Tania sagt, sie
tja, vielleicht ist es besser, wenn du es mit eigenen Augen siehst.« Nach einer kurzen Pause fügte er boshaft hinzu:
»Übrigens ist dein Junot vielleicht doch nicht unbedingt der geeignete Sicherheitschef für mich. Offensichtlich hat er es noch nicht mal geschafft zu verhindern, daß Kabler unbemerkt die Klinik betritt.«
»Ich habe ihm gesagt, daß er Kabler reinlassen soll.«
»Was? «
»Kabler ist ein cleverer Bursche. Ich hatte mir schon gedacht, daß er die Geschichte von Nells
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