Das Schweigen der Schwaene
herausgefunden hatte, war nicht genug. Sie konnte sich nicht sicher sein. Ohne Tanek käme sie nicht vom Fleck.
Noch eine Minute.
Sie stapfte verbissen auf dem Stairclimber herum und atmete durch den Mund, wie es ihr von Phil gezeigt worden war. Sie hatte festgestellt, wenn sie sich von einer Minute zur nächsten
kämpfte, kam sie mit ihrer Erschöpfung besser zurecht, als wenn sie von Anfang an ein unerreichbares Ziel ansteuerte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, und dicke Schweißtropfen rannen ihr über das Gesicht.
Noch eine Minute.
»Hätten Sie vielleicht einen Augenblick für mich Zeit? Ich hätte ein paar Fragen an Sie.«
Der Mann, der in der Tür des Fitneßraums stand, sah weder wie ein Arzt noch wie ein Krankenpfleger aus. Er war klein und untersetzt, und seine grauen Locken schienen einmal hellbraun gewesen zu sein. Er hatte einen grauen Anzug, ein gestreiftes Hemd und Slipper an. Wahrscheinlich irgendwer von der Verwaltung, der sie nach der Begleichung der Rechnung fragen wollte, nun, da sie so kurz vor ihrer Entlassung stand. »Hat es vielleicht noch ein wenig Zeit? Ich habe es fast geschafft.«
»Ich beobachte Sie schon seit fünfzehn Minuten, und ich finde, Sie haben jetzt mehr als genug trainiert.«
Vielleicht war er doch ein Arzt, und sie wollte nicht, daß er sich bei Joel beschwerte, weil sie mit ihrem Training übertrieb. »Sie haben recht.« Lächelnd stieg sie von dem Gerät. »Aber wenn Sie mit mir sprechen wollen, müssen Sie neben mir hergehen.
Phil sagt, daß ich mich nach dem Training immer erst abkühlen muss.«
»Ah ja, Phil Johnson. Ich glaube, ich habe ihn vorhin im Flur gesehen.« Er verzog das Gesicht. »Unglücklicherweise hat er mich ebenfalls gesehen, so daß uns wahrscheinlich nicht allzuviel Zeit bleibt für unser Gespräch.«
»Oh, sie haben nichts mehr gegen Besuch.« Sie marschierte entschlossenen Schrittes los. »Ich bin schon wieder ziemlich fit.«
»Wunderbar.« Er ging ihr nach. »Lieber hat prächtige Arbeit geleistet. Allein anhand Ihres Photos hätte ich Sie unmöglich erkannt.«
»Joel hat Ihnen mein Photo gezeigt? «
»Nicht ganz.«
Leichtes Unbehagen wallte in ihr auf. Sie verlangsamte ihren Schritt und sah ihn an. »Wer sind Sie? «
»Die Frage ist wohl eher, wer sind Sie? »
»Nell Calder«, fuhr sie ihn ungeduldig an. »Wenn Sie mein Bild oder meine Akte gesehen haben, wissen Sie das doch ganz genau.«
»Ich wusste es nicht, aber ich habe es mir gedacht. Darum habe ich mich in Liebers Heiligtum vorgewagt.« Er sah sich um.
»Ziemlich ruhig hier. Hat sich die Frau des Präsidenten tatsächlich hier liften lassen? «
»Keine Ahnung. Es ist mir auch egal. Wer sind Sie? «
Er setzte ein freundliches Lächeln auf. »Joe Kabler, DEA.«
Sie wartete.
»Hat Tanek Ihnen etwa nichts von mir erzählt? «
»Wir tauschen nur selten vertrauliche Informationen aus. Sind Sie ein Freund von ihm? «
»Wir respektieren einander, und wir haben ein paar gemeinsame Ziele. Aber als Freunde bezeichne ich Kriminelle für gewöhnlich nicht.«
Sie sah ihn reglos an. »Kriminelle? «
»Himmel, offenbar hat er Ihnen wirklich nicht gerade viel erzählt. Was hat er über sich selbst gesagt? «
»Dass er pensioniert ist. Daß er mit Rohstoffen gehandelt hat.«
Kabler grinste. »Oh, das hat er bestimmt getan. Und zwar mit Rohstoffen ganz besonderer Art. Mit Geheimdokumenten, mit Informationen, mit Kunstgegenständen und allem möglichen anderen Zeug. Er war der Kopf eines Verbrecherrings, der den Behörden in Hongkong jahrelang großes Kopfzerbrechen bereitet hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber mit Drogen hatte er nie etwas zu tun, von daher hatte ich es nie auf ihn abgesehen. Übrigens, wo treibt er sich denn im Augenblick gerade herum? «
»Keine Ahnung.«
Er musterte sie. »Ich glaube, Sie sagen die Wahrheit.«
»Warum sollte ich Sie belügen? Er hat eine Ranch in Idaho, vielleicht versuchen Sie es einmal dort.«
»Dort habe ich ihn erst vor sechs Monaten besucht. Im Vergleich zu den Sicherheitsvorkehrungen, die er dort getroffen hat, ist das hier der reinste Kinderkram.« Er machte eine kurze Pause. »Außerdem eilt es nicht mehr. Jetzt weiß ich ja wenigstens, daß Tanek Sie nicht erledigt hat.«
Trotz der Beiläufigkeit seines Tons bekam Nell bei seinen Worten einen Schock. »Sie dachten, er hätte mich umgebracht?«
»Ich habe es bezweifelt, aber bei Tanek weiß man nie.« Er lächelte. »Also dachte ich, ich komme mal her und sehe nach, was hier
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