Das Schweigen der Toten
unnatürlich still geworden. Die Männer auf dem Festwagen, die Zuschauer am Straßenrand, sogar die Blaskapelle. Alles hielt gebannt den Atem an. Kat glaubte die Spannung spüren zu können. Alle wollten, dass sie den Sarg öffnete. Das war die brutale Seite der menschlichen Natur.
Kat hielt die Luft an.
Sie brach den Deckel auf.
Sie starrte in den Sarg.
Er war leer. Fast wäre Kat vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Sie fuhr mit der Hand über den rauen Bretterboden, um sich zu vergewissern. Sie war so überzeugt gewesen, James darin zu finden, dass sie jetzt ihren Augen nicht traute.
Aber sie konnte ihnen trauen. Ihr Sohn lag nicht in diesem Sarg. Doch ihre Erleichterung wurde gedämpft von nagender Angst. Wenn er nicht hier war – wo war er dann?
Vierunddreißig
Henry rannte über die Main Street. Der Umzug war ins Stocken geraten. Die Teilnehmer sprangen zur Seite, um ihm Platz zu machen, und wer nicht schnell genug war, wurde rücksichtslos weggestoßen.
Im Laufen rief er James’ Namen, so laut und ausdauernd, dass ihm die Kehle brannte.
«James Campbell! Hörst du mich?»
Am Ende der Main Street angelangt, sah er die Neonreklame über dem
Jigsaw
blinken. Atemlos blieb er vor dem Kneipeneingang stehen. Er rang nach Luft wie damals, als er eingeschlossen im Sarg lag. Die ganze Straße war abgesucht und James immer noch nicht gefunden. Henry wusste nicht, wo der Junge sonst sein könnte. Er wollte schon wieder umkehren, als er hinter der nächsten Ecke ein Geräusch hörte, das ihn aufmerken ließ.
Jemand schluchzte.
Henry eilte um die Kneipe herum in eine Gasse, die nur von den entfernten Laternen der Main Street und dem flackernden Schein der Neonreklame beleuchtet wurde.
Plötzlich stand er vor James. Der Junge war allein und hatte sein Kostüm über der Schulter hängen. Tränen liefen ihm übers Gesicht.
«James, was machst du hier?»
Es dauerte eine Weile, ehe der Junge registrierte, wer da vor ihm stand. Als er Henry erkannte, lief er auf ihn zu und schlang ihm seine Arme um die Beine.
«Ich habe mich verlaufen», schluchzte er. «Da war jemand, der hat mich weggezogen, als wir uns aufgestellt haben. Wir wollten gerade losmarschieren.»
Henry blickte sich nach allen Seiten um, sah aber niemanden.
«Wer hat dich weggezogen?»
James schüttelte den Kopf. Er wusste es nicht.
«Ich habe ihn nicht gesehen», antwortete er. «Er hat mich hierhergeschleppt und ist dann weg.»
«Wie lange ist das her?»
James zuckte mit den Achseln. Auch darauf konnte er keine Antwort geben.
«Na ja. Jetzt bist du jedenfalls in Sicherheit», sagte Henry. «Komm, wir suchen deine Mutter. Sie macht sich große Sorgen.»
Als sie in die Main Street einbogen, kam ihnen ein Kleiderschrank von Mann entgegen. Sein Gesicht lag im Schatten, doch Henry erkannte ihn auf Anhieb.
Lucas Hatcher.
Henry stürmte auf ihn zu. «Haben Sie den Jungen mitgenommen?»
«Den da?» Lucas zeigte auf James. «Nie gesehen.»
«Belügen Sie mich nicht», zischte Henry und machte eine Drohgebärde. «Der Junge sagt, jemand habe ihn hierhergeschleppt. Und außer Ihnen sehe ich hier niemanden.»
«Ich weiß nicht, wovon Sie reden», entgegnete Lucas. «Bin gerade gekommen und auf dem Weg in die Kneipe.»
Henry glaubte ihm nicht. Der Totengräber sah aus wie die Schuld in Person. Er wäre körperlich durchaus in der Lage, all das zu tun, was Meister Tod zur Last gelegt wurde. Mit Leichtigkeit hätte er George Winnick und Troy Gunzelman überwältigen können, ganz zu schweigen von Amber Lefferts.
Henry sah sich um und bemerkte hinter der Kneipe eine schmale Gasse. Wahrscheinlich wurden dort tagsüber die Getränke angeliefert und der Müll abgeholt. Jetzt war sie stockdunkel, wie geschaffen dafür, sich zu verstecken – und zu warten.
«Haben Sie da hinten Ihren Lieferwagen abgestellt? Wollten Sie den Jungen dort abfangen, so wie Sie George und Troy und Amber abgefangen haben?»
Lucas krauste die Stirn. «Was faseln Sie da?»
«Warum haben Sie das getan?», fragte Henry. «Verraten Sie mir, warum?»
«Warum was?»
«Warum haben Sie sie getötet?»
«Sie glauben doch nicht etwa, ich wäre Meister Tod?»
«Doch, das glaube ich», antwortete Henry.
«Dann muss ich Sie enttäuschen. Ich bin’s nämlich nicht.»
Henry geriet in Rage. Seit Monaten herrschten Angst und Schrecken in der Stadt. Er selbst war in die entsetzlichen Geschehnisse mit einbezogen worden, nämlich als ahnungsloses Bindeglied zwischen dem Mörder
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