Das Schweigen der Toten
weitere Worte und ließen Gesten sprechen. Deana strich ihm mit der Hand über Brust und Bauch. Er liebkoste ihre Brüste und drückte sie dann sanft ins Kissen.
«Wann fährst du?», fragte sie.
«Noch heute Abend.»
«Verabschieden wir uns so, dass es für uns beide unvergesslich ist.»
Sie liebten sich ein letztes Mal, während es draußen dunkel wurde. Anschließend zog sich Henry wieder an, gab ihr einen Kuss und ging. Auf der Treppe hörte er Deana aus dem Bett steigen, durchs Zimmer gehen und den Telefonhörer von der Gabel heben.
Er war schon an der Tür, als er sie sprechen hörte.
«Henry verlässt die Stadt. Ich hoffe, du bist froh darüber.»
Eine Stunde, bevor die Parade beginnen sollte, ging Kat nochmal ins
Jigsaw
. Die Kneipe war gerammelt voll, so gut besucht wie noch nie, allerdings nicht von Einheimischen, sondern von Besuchern. Sie trugen Kostüme und bestellten Cocktails mit passenden Namen wie Hallowtini oder Mummy Mohito. Offenbar blieb nicht einmal das
Jigsaw
vor der Invasion der Fremden verschont.
Chuck Budman stand hinterm Tresen und ließ den Blick schweifen. Als er Kat entdeckte, machte er ein Gesicht wie ein Kind, das mit der Hand in der Keksdose erwischt wurde.
«Wo sind deine Stammgäste?»
«Irgendwo anders. Was soll’s? Die Typen hier machen doppelt so viel Zeche.»
Seine schäbige Spelunke war für einen Abend zu einem angesagten Treffpunkt geworden. Kat gönnte ihm das Geschäft. Alle anderen Läden an der Main Street profitierten schließlich auch davon.
«Glaubst du, dass Lucas Hatcher noch auftaucht?»
«Was weiß ich? Vielleicht. Aber eigentlich rechne ich nicht mit ihm, nicht nach gestern Abend.»
«Was war denn gestern Abend?»
Chuck schnaubte und sagte: «Er hat sich mit einem Touristen angelegt und ordentlich was in die Fresse gekriegt. Ich wette, er hat ein dickes Auge.»
Und trägt jetzt eine Sonnenbrille, fügte Kat im Stillen hinzu.
«Wann war das?», fragte sie.
«Schon ziemlich früh», antwortete Chuck. «Er hatte noch nicht mal was getrunken. Schätze, so gegen halb sechs.»
Mehr wollte Kat nicht wissen. Sie bedankte sich bei Chuck und trat wieder auf die Main Street, die inzwischen dicht bevölkert war. Wieder sah sie kein einziges vertrautes Gesicht. Alle, die mit Zuckeräpfeln und heißem Apfelwein an ihr vorbeiflanierten, waren von auswärts.
Aber vielleicht lag es auch an den Kostümen, dass sie niemanden erkannte. Verkleidet waren alle, Kinder und Erwachsene, viele als Hexen oder Teufel. Aus der Menge ragten zahllose schwarze Spitzhüte und Mistgabeln aus Plastik hervor. Sie sah etliche Piraten mit Augenklappen und Spielzeugschwertern. Auch Chirurgen waren vertreten, die taubenblaue Kittel und Schutzmasken vor dem Mund trugen.
Kat befand sich mitten in der Menge und machte sich Gedanken über Lucas Hatcher. Er hatte ihr wieder einmal die Wahrheit gesagt und war tatsächlich am Abend zuvor im
Jigsaw
gewesen, was sein blaues Auge bewies. So viel zu ihrer Vermutung, dass er es sich bei einem Autounfall zugezogen haben könnte, genauer gesagt am Steuer eines weißen Lieferwagens.
Im Hintergrund war Marschmusik zu hören. Die Bigband der Highschool spielte sich ein. Die Menge jubelte, Teufel hoben ihre Forken, Piraten ihre Schwerter, und Hexen und Chirurgen klatschten Beifall.
Umringt von ausgelassenen Partygästen, von denen sich Kat zunehmend bedrängt fühlte, ging ihr plötzlich ein Licht auf.
Die Schlägerei in der Kneipe hatte gegen halb sechs stattgefunden. Amber war um Viertel nach sechs aus ihrem Haus entführt worden. Blieben fünfundvierzig Minuten, für die Lucas kein Alibi hatte.
Dreiunddreißig
Nach seinem Abschied von Deana ging Henry ein letztes Mal in die Redaktion der
Gazette
, um ein paar persönliche Dinge einzusammeln. Er schlich gerade über die Hintertreppe in den dritten Stock, als die Blaskapelle auf dem Parkplatz nebenan erste Töne hören ließ. In wenigen Minuten würde der Umzug beginnen und ihm Gelegenheit bieten, unbemerkt davonzukommen.
In seinem Büro schaltete er die Schreibtischlampe an. Schon jetzt fühlte er sich fremd in dieser seit Jahren vertrauten Umgebung. Nichts von alldem würde ihm bleiben, nicht einmal die Opern, die auf der Festplatte seines Computers gespeichert waren. Das Einzige, was wirklich ihm gehörte, waren ein paar Nachschlagewerke im Regal, eine Thermosflasche, die in der unteren Schublade des Schreibtisches lag, und ein selten getragenes Sakko, das in der Ecke hing.
Er suchte
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