Das Schweigen der Toten
seine Sachen zusammen und ließ ein letztes Mal seinen Blick durch das kleine, schmucklose Zimmer schweifen. Es war nicht viel mehr als eine Abstellkammer, und doch hatte er sich hier wohl gefühlt. Er würde sein Büro vermissen.
Er war schon durch die Tür, als er vom Schreibtisch ein unverwechselbares Geräusch hörte.
Das Faxgerät.
Wie versteinert stand er in der Tür und sah ein einzelnes Blatt aus der Maschine rutschen.
Ein mittlerweile vertrauter kalter Schauer fuhr ihm über den Rücken. Er ließ seine Sachen fallen, ging auf wackeligen Beinen zum Schreibtisch und griff voll düsterer Vorahnung nach der ausgedruckten Seite.
Mit Daumen und Zeigefinger hob er das Blatt aus der Ablage und schloss unwillkürlich die Augen. Er wollte nicht sehen, was darauf stand, sich nicht dafür verantwortlich fühlen müssen.
Doch er kam nicht umhin. Das Fax enthielt womöglich den Namen einer Person, die dem Tod geweiht war, und er musste Kat davon berichten. Er musste helfen.
Er öffnete die Augen, zuerst das linke, dann das rechte. Zuerst sah er nur verschwommen, doch langsam wurden die Worte klar und unmissverständlich.
Als er den Namen auf der Todesnachricht las, stockte ihm der Atem. Der Laut, der ihm dann entwich, zitterte noch in der Luft, als er das Fax fallen ließ. Mit dem Echo in den Ohren stürzte er zur Tür und die Treppe hinunter.
Auf der Straße versperrte ihm die Menge der Feiernden den Weg. Er kam nur mit Mühe voran. Als sich dann am südlichen Ende der Straße die Marschkapelle in Bewegung setzte und mit ihr das ganze Volk, ließ er sich mittreiben, half mit den Ellbogen nach, um schneller voranzukommen, und rempelte alles an, was ihn daran hinderte.
Mit einem Sprung zur Seite wich er einem jungen Paar mit Kinderwagen aus und prallte mit einem kräftigen Mann zusammen, der einen Becher Kaffee in der Hand hielt und verschüttete. Henry taumelte zurück und riss den Kinderwagen um, aus dem ein Kleinkind aufs Pflaster purzelte.
Henry raffte sich auf, wütend beschimpft von dem Paar, das sein Kind vom Boden aufhob. Andere stimmten mit ein, und ein als Clown verkleideter Mensch packte ihn beim Kragen. Henry zerrte, bis er sich befreit hatte, zerriss dabei sein Hemd und hastete weiter.
Er eilte die Main Street entlang und suchte verzweifelt nach Kat, nach einer Frau in Uniform, sah aber nur ein bewegtes Meer von Köpfen. Die Hände wie einen Trichter vor dem Mund, brüllte er ihren Namen. «Kat!»
Vereinzelte Gesichter wandten sich ihm zu, erschrocken, verärgert oder beides. Henry achtete nicht auf sie und brüllte noch lauter.
«Kat!»
Seine Stimme ging in der Blasmusik unter. Die Kapelle zog auf gleicher Höhe wie er die Straße entlang. Fanfarenstöße und das Rat-a-tat-tat der kleinen Trommeln erstickten seine Rufe.
Henry sah sich hektisch um. Er war groß genug, um über die Köpfe derer hinwegzublicken, die am Straßenrand standen. Endlich entdeckte er Kat Campbell, eingezwängt in einen Pulk von Menschen.
Es gab für ihn kein Halten mehr.
Er musste Kat erreichen.
Er musste sie warnen.
Mit vollem Körpereinsatz bahnte er sich einen Weg durch die Menge, sprang auf die Straße, rannte durch die Reihen der Flötenspieler, die ihn zu ignorieren versuchten, an den Trommlern vorbei auf die andere Straßenseite und brüllte immerzu Kats Namen.
Als er endlich bei ihr war, riss er sie zu sich herum. «Ich habe gerade wieder eine Todesnachricht bekommen. Mit James’ Namen.»
Wie vom Schlag getroffen, drohte Kat in den Knien einzuknicken. Sie hielt sich an Henrys Schulter fest.
«Was steht drauf?», brachte sie unter Mühen hervor.
«Sein Name», antwortete Henry, «und das Datum von heute.»
Zahllose Gedanken und Bilder wirbelten ihr durch den Kopf. Sie konnte nicht glauben, was Henry ihr da sagte. So etwas passierte nur anderen. Leuten wie Alma Winnick oder Lisa Gunzelman.
Doch nicht ihr.
Gleichzeitig wusste sie, dass Henry die Wahrheit sagte. Er war aufgelöst und sichtlich verstört, sein Gesicht gerötet, wodurch die fahle Narbe umso deutlicher zu erkennen war. Sie sah die Angst in seinen Augen, jene dunkle, zitternde Angst, die einen befiel, wenn sich Unaussprechliches vollzog.
«Wann?», flüsterte sie. «Wann soll er sterben?»
Die Angst war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, als er sich auf der Straße umblickte.
«Jetzt», antwortete er. «In diesem Moment.»
Kat rannte auf die Straße hinaus. Die Bläser und Trommler sprangen ihr aus dem Weg, die Musik fiel
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