Das Schweigen der Toten
und allen anderen. Dafür wollte er jetzt eine Erklärung hören.
«Warum haben Sie mir diese Todesnachrichten geschickt?», fragte er und näherte sich Lucas mit geballten Fäusten. Er wollte wissen, warum. Wenn nötig, würde er die Antwort aus dem Totengräber herausprügeln. «Warum haben Sie mir diese Faxgeräte vor die Tür gestellt?»
Lucas rührte sich nicht vom Fleck. Auch er war wütend. Sein Blick flackerte wild, und das Gesicht war so dunkel angelaufen, dass der Geburtsfehler nicht mehr zu erkennen war.
«Ich bin nicht der Killer», knurrte er. «Die Leute sagen, Sie –»
Ein Schuss krachte.
Er war aus der dunklen Gasse hinter der Kneipe abgefeuert worden. Henry hatte einen heißen Luftzug auf der Höhe seines Kopfes gespürt, ehe das Geschoss Lucas Hatcher traf.
Die Kugel drang über der Nasenwurzel ein, wo sich nur ein kleines rotgerändertes Loch öffnete, zerschlug aber die gesamte hintere Schädelwand, aus der Blut und Gewebe herausspritzten.
James schrie, als Lucas zu Boden ging. Es war ein herzzerreißender Schrei, der andauerte, während der Junge mit weit aufgerissenen Augen auf die Leiche starrte, das Blut herausströmen und über Henrys Schuhe laufen sah.
Henry packte ihn am Arm, um ihn in Sicherheit zu bringen, doch der Junge blieb wie angewurzelt stehen, worauf Henry nichts anderes übrigblieb, als ihn aus seiner Schockstarre herauszureißen.
«Wir müssen gehen. Sofort.»
Hinter Henry wurden Schritte laut, schnelle Schritte auf dem Pflaster. Jemand warf sich ihm in den Rücken und schlug ihm eine Hand vors Gesicht, die ein Taschentuch vor Mund und Nase presste.
Henry versuchte, sich zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Die Hand drückte so fest zu, dass er keine Luft mehr bekam.
Henrys rechter Arm war eingeklemmt, mit dem linken schlug er um sich. Für einen kurzen Moment verrutschte das Taschentuch. Er nutzte die Gelegenheit und brüllte: «Lauf, James, lauf weg!»
Dann war die Hand wieder zur Stelle und presste ihm das Taschentuch umso fester auf das Gesicht. Henry schnappte nach Luft, spürte das Tuch auf der Zunge. Er sah alles nur noch verschwommen, wie in weißen Nebel gehüllt.
Seine Augenlider senkten sich von selbst, dann sackte auch der Kopf nach vorn, und eine tiefe Müdigkeit übernahm die Kontrolle.
Kat befand sich noch auf dem Festwagen, als sie den Schuss hörte. Er kam vom unteren Ende der Main Street und versetzte die Menge in helle Aufregung. Die Leute liefen durcheinander und vermischten sich mit den Teilnehmern des ins Stocken geratenen Umzugs.
Der Wagen geriet unter dem Ansturm der Menge ins Wanken. Kat hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben, schaute sich um und blickte in verschreckte Gesichter. Nur eines davon war ihr vertraut.
Das von James.
Er rannte, der anderen ungeachtet und so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, die Straße entlang.
Kat sprang vom Wagen und eilte auf ihn zu. Als sie einander erreichten, nahm sie ihn in die Arme und hob ihn, fest an die Brust gedrückt, in die Höhe.
«James, mein Schatz, wo warst du?»
Vor Glück traten ihr Tränen in die Augen. Kat ließ ihnen freien Lauf. Sie hatte ihren Sohn schon tot gewähnt, doch er lebte, es war ihm nichts zugestoßen, sie hielt ihn in den Armen. Wenn das kein Grund war, vor Freude zu weinen.
Als sie ihn schließlich wieder absetzte, sah sie, dass auch er weinte, aber nicht vor Freude. Er schluchzte so heftig, dass sein ganzer Körper bebte.
«Ist mit dir alles in Ordnung?», fragte sie und ging vor ihm in die Hocke, um ihm in die Augen sehen zu können. «Bist du verletzt?»
James starrte sie aus ausdruckslosen Augen an. Sie kannte diesen Blick, diese entgeisterte Miene von Missbrauchsopfern oder Überlebenden von Autounfällen, die gerade erfahren hatten, dass die Mitfahrer tot waren. Ihr Sohn stand unter Schock.
«Kleiner Bär, sag mir bitte, was passiert ist.»
Es hatte ihm die Sprache verschlagen. Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne ein Wort von sich zu geben, es waren nur Murmellaute zu hören, wie sie einem im Albtraum über die Lippen kamen.
Er wischte sich mit der Hand die Tränen vom Gesicht und hob die andere, die zu einer Faust geballt war und sich dann Finger um Finger öffnete. In der schweißnassen Hand klebte ein Stück Papier, nicht größer als eine Kaugummihülle.
«Wer hat dir das gegeben? Henry?»
James antwortete nicht. Kat nahm ihm den Zettel aus der Hand. Er war von Hand beschrieben, in gedrängter Schrift, kaum leserlich.
Henry
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