Das Schweigen der Toten
Gesichtszügen durchaus das Zeug zu einem Filmstar. Warum er sich ausgerechnet für Amber interessierte, lag auf der Hand.
«Troy hat mich von der Schule hierhergefahren», erklärte Amber. «Er wollte gerade wieder gehen.»
Das war Troy offenbar neu, der ihr einen enttäuschten Blick zuwarf. Sie hatte anscheinend vergessen, ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass Kat beim Babysitten keine Männerbesuche duldete.
«Na ja», sagte er. «Ich muss sowieso noch trainieren.»
«Bis dann, Troy.» Kat tätschelte ihm den Rücken, als er die Verandastufen heruntersprang. «Mach’s gut.»
Als sie Troy auf seinen alten grünen Mustang zugehen sah, erinnerte sie sich daran, was Lou über Amber gesagt hatte. Ja, Kat wusste, worauf sie sich einließ.
Das Mädchen kam aus einer der angesehensten Familien der Stadt. Reverend Lefferts war Pastor in der Presbyterianischen Kirche, und seine Frau engagierte sich in fast jedem gemeinnützigen Verein, obwohl sie sieben Kinder großzuziehen hatte, alle blond, hellhäutig und quietschsauber. Die Lefferts’ waren die Trapp-Familie von Perry Hollow, zwar ohne Lederhosen, aber ebenso harmonisch.
Mit Ausnahme von Amber.
Das mit knapp fünfzehn Jahren jüngste Kind der Lefferts’ war mit Abstand auch das wildeste. Amber rauchte heimlich hinterm Schulhof, trieb sich nachts herum und trug ihre Kleider so kurz, wie es nur ging. Trotz der winterlichen Kälte hatte sie an diesem Nachmittag ein pinkfarbenes T-Shirt und ein Jeanskleid an, das auch als Gürtel hätte durchgehen können, und trug an den Füßen weiße Keds. Obwohl von Natur aus blond, hatte sie sich Strähnchen machen lassen, die so weiß waren wie ihre porzellanfarbene Haut. Fast sah sie dadurch aus wie ein Albino.
Niemand setzte große Hoffnungen in Amber, auch Kat nicht, aber im Umgang mit James war sie ein Engel. Im Unterschied zu allen anderen Babysittern sprach sie nicht über, sondern mit ihm, und weil sie ihm gegenüber keine Vorbehalte zeigte, mochte er sie. Amber war die einzige Babysitterin, auf die er sich freute, und deshalb war sie Kats erste Wahl.
James rannte auch jetzt auf sie zu und warf sich ihr in die Arme.
«Willst du Wii mit mir spielen?», fragte er. «Ich habe ein neues Hundespiel.»
«Klar», antwortete Amber, die sich von Troys frühzeitigem Aufbruch erholt zu haben schien. «Wir machen alles, was du willst.»
Kat öffnete ihr Portemonnaie und reichte ihr einen Zwanziger.
«Für Pizza. Ich weiß noch nicht, wann ich wieder zurück bin. Wenn’s nach zehn wird, kriegst du mehr.»
Amber steckte das Geld schulterzuckend in eine gefälschte Gucci-Tasche, die über ihrer Schulter hing. «Cool.»
Kat nahm James beiseite. Obwohl sie seine Antwort schon vorher kannte, fragte sie: «Benimmst du dich auch gut bei Amber?»
«Ja, Mom», sagte er, und seine Stimme klang ein bisschen spöttisch. Diesen Tonfall hatte er sich vor kurzem angeeignet, wofür Kat Jeremy verantwortlich machte.
«Lass mal fühlen, wie sehr du mich liebst.»
James schlang seine Arme um sie und drückte so fest zu, dass ihr fast die Luft wegblieb. In solchen Momenten waren alle Mühen, die er ihr machte, vergessen, und sie wusste, dass sie alles für ihren Sohn tun würde.
«Viel Spaß mit Amber», sagte sie und ließ widerstrebend von ihm ab. «Ich versuche, möglichst bald wieder hier zu sein.»
James winkte lächelnd und lief ins Haus. Kat ging auf den Wagen zu, sie fürchtete, es würde ein langer Abend werden. Dabei wollte sie nichts mehr als bei ihrem Sohn bleiben.
Als sie vor zehn Jahren ihren Polizeidienst angetreten hatte, hätte sie nie für möglich gehalten, dass sie über ihre Arbeit mal so denken würde. Damals hatte sie ihre Schwangerschaft als ein Malheur aufgefasst.
Genau wie der Vater.
Er hieß Jackson Moore, kurz: Jack. Und er hatte mit ihr zusammen die zweiköpfige Polizeieinheit von Perry Hollow gebildet. Er und Kat hatten sich als Paar verstanden, ohne die Sache besonders ernst zu nehmen. Kat wollte Karriere machen. Ehe und Familie kamen nicht in Betracht, schon gar nicht mit einem Mann, der so unzuverlässig war wie Jack. Er sah zwar wahnsinnig gut aus, war interessant und witzig und ein Tier im Bett, als Ehemann und Vater aber völlig ungeeignet.
Als sie schwanger wurde, mussten beide wichtige Entscheidungen treffen, vor allem in der Frage, ob Kat das Baby behalten sollte oder nicht – einer Frage, die ihr mehr zu schaffen machte, als sie sich eingestehen mochte. Als sie Jack sagte, dass sie sich
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