Das Schweigen der Toten
nach», rief Kat zurück.
Der Reporter gab sich geschlagen und blieb mitten auf der Straße stehen. Schnaufend brüllte er: «Gib mir bitte Bescheid, sobald du was rausgefunden hast.»
Kat streckte den Arm aus dem Fenster, zeigte mit dem Daumen nach oben und gab Gas. Im Rückspiegel sah sie Martin enttäuscht und mit hängenden Schultern auf dem Gehweg kleiner werden.
Am Ende der Main Street angekommen, bog Kat in die Old Mill Road ein, die bis zum Lake Squall führte. Vom alten Sägewerk, das dort gestanden hatte, waren nur noch Ruinen übrig geblieben. Die Stadt belebte sich zwar wieder, doch bislang war niemand auf die Idee gekommen, das Gebäude zu restaurieren, das zu ihrer Gründung geführt hatte. Die Mauern waren verfallen, die Zufahrt voller Schlaglöcher und die Schienen von Unkraut überwuchert.
Halbwegs intakt war nur noch das Hauptgebäude, ein beeindruckendes Bauwerk mit sieben Stockwerken, das in der Ferne über den Baumwipfeln aufragte. Hinter dem Schrägdach ging gerade die diesige Sonne unter. Hunderte von Menschen hatten früher dort gearbeitet. Heute war es nur noch ein Gespenst der Vergangenheit, gehüllt in den Nebel, der vom See aufstieg.
Während ihrer Kindheit war das Werk für Kat, die das Gelände selbst nie betreten hatte, eine Projektionsfläche wilder Phantasien gewesen. Nicht selten hatte es dort Unfälle gegeben, von denen ihr Vater berichtete. Einzelheiten waren ihr zwar erspart worden, doch wenn sie abends im Bett lag, stellte sie sich vor, wie verunstaltete Männer an den Sägen arbeiteten, durch die sie verstümmelt worden waren.
Zum Glück hatte sie diese Phase längst hinter sich gelassen. Nun aber wurden die Schrecken von damals lebendig. Allerdings war der Mord an George Winnick noch weitaus verstörender als das, was sie sich als Mädchen ausgemalt hatte.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, als sie an der Stelle vorbeifuhr, an der sie Georges Leiche entdeckt hatte. Noch immer sperrten Bänder der Polizei den Fundort ab. Obwohl der Sarg und sein grausiger Inhalt längst fortgeschafft worden waren, sah sie beides vor sich im Schnee liegen. Sie hoffte, dass die Bilder bald verblassten und sie wieder in Frieden über die Old Mill Road würde fahren können. Allerdings fürchtete sie, dass diese Bilder wie die Mühle waren – unveränderbar und allgegenwärtig.
Sieben
Am selben Nachmittag fuhr Nick zur Gerichtsmedizin. Cassie Lieberfarb saß auf dem Beifahrersitz und fummelte am Autoradio herum. Sie wechselte von Sender zu Sender, fand aber nichts, was beiden gefiel.
«Country, Country, Fahrstuhlmusik und nochmal Country.»
«Kein guter alter Rock?», sagte Nick.
«Nein, aber wenn du willst, könnte ich dir ‹Stairway to Heaven› vorsingen. Das haben wir im Mädchenchor von Temple Beth El gelernt.»
«So verlockend das klingt, lieber nicht.»
«Dann könntest du mir stattdessen ja mal erklären, warum du mich angelogen und behauptet hast, du würdest in Florida Urlaub machen», sagte Cassie.
Sie hatte ihren Analytikertonfall angeschlagen, der weder wertend klang noch ironisch. Nick kannte diese Stimmlage zu Genüge, allerdings galt sie in der Regel Tatverdächtigen und nicht ihm.
«Ich habe nicht gelogen», sagte Nick.
«Warst du in Florida?»
Er ließ sich mit der Antwort Zeit und schüttelte schließlich den Kopf.
«Und es war auch kein Urlaub, oder?»
Wieder zögerliches Kopfschütteln.
«Gut, dann nennt man es Lüge», sagte Cassie.
Unter ihren Blicken kam Nick sich vor, als läge er unter einem Mikroskop, nackt und hilflos. Er straffte die Schultern, um Stärke zu demonstrieren, was aber nicht funktionierte.
«Ich habe Gewaltverbrecher interviewt», sagte er.
«Wen?»
«Edgar Sewell, Mitchell Ramsey und Frank Paul Steel.»
Cassie verarbeitete diese Information kurz und brachte sie mit den Verbrechen in Verbindung, die sie begangen hatten.
«Aber diese Fälle liegen dreißig Jahre zurück», entgegnete sie. «Warum hast du dich mit diesen Männern unterhalten?»
Sie kannte die Antwort, und Nick wusste, dass sie sie kannte. Trotzdem ließ sie nicht locker. Sie glaubte, über die Vergangenheit zu sprechen, könne helfen, therapeutisch wirken. Nick war anderer Meinung. Also schwieg er.
Nach einer vollen Minute angespannter Stille gab sich Cassie geschlagen.
«Dann lassen wir das und haken das Thema ab», sagte sie. «Aber du weißt, wie ich darüber denke. Ich verstehe, dass es dir schwerfällt, darüber zu reden, aber wenn du nur in
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