Das Schweigen der Toten
wie ist es zu diesen roten Abdrücken gekommen?»
«Sie waren auf der Haut festgefroren. Ich musste sie mit warmem Wasser lösen.»
«Haben Sie die Münzen noch?», wollte Cassie wissen.
Der Mediziner nickte. «In meinem Büro, eingetütet und beschriftet, fertig fürs Labor.»
Nick fotografierte jetzt den Hals der Leiche.
«Wir brauchen die Fäden», sagte er zu Wallace. «Die müssen auch untersucht werden.»
Wallace nahm eine Schere und schnitt vorsichtig die Nähte auf. Die Wunde öffnete sich, aber es trat kein Blut mehr heraus. Mit einer Pinzette zupfte er die Fäden aus der Haut und steckte sie in die von Cassie aufgehaltene Beweismitteltüte.
Anschließend trat er beiseite, damit die beiden einen ungehinderten Blick auf die Wunde werfen konnten. Es handelte sich um einen sauberen Einschnitt, offenbar entschieden angesetzt und durchgeführt.
«Ich tippe auf ein Skalpell», sagte Cassie. «Mit einem Messer, egal wie scharf, kriegt man so etwas nicht hin.»
«Auch das passt nicht zur Handschrift des Betsy-Ross-Mörders», bemerkte Nick. «Der hat seine Opfer regelrecht zerfetzt.»
Cassie nickte zustimmend. «Bei ihm war jedes Mal rasende Wut im Spiel. Hier nicht. Diese Wunde sieht aus wie nach einem klinischen Eingriff.»
Sauber und präzise, dachte Nick, denn auch die Stelle am Hals schien bewusst gewählt zu sein.
Von den Nähten befreit, hatten sich die Wundränder wie zu einem zahnlosen Lächeln geöffnet. Nick machte ein paar Makro-Aufnahmen. Auf dem Display zeigten sich Bilder von erstaunlicher Tiefenschärfe, auf denen sogar ein Teil der durchtrennten Halsschlagader zu erkennen war, blassviolett und mit winzigen schwarzen Linien.
Nick ging mit der Kamera näher heran.
«Ich glaube, da sind weitere Nähte.»
Er wich zurück, als Wallace Noble wieder an den Tisch herantrat und mit einem kleinen spitzen Haken die Arterie aus der Wunde hervorzog. Das grelle Licht der OP -Leuchte gab Nick recht. Die Halsschlagader war wie die Wunde darüber mit einem schwarzen Faden zugenäht worden.
«Nicht zu fassen», sagte Wallace und hustete röchelnd. «Aber jetzt ist klar, woran der arme alte George gestorben ist.»
Acht
«George war kein bedeutender Mann, aber herzensgut. Er hat mich immer gut behandelt.»
Alma Winnick, eine kugelrunde Frau im staubblauen Hauskleid, hielt diese kümmerliche Rede von einem Lehnstuhl aus, der mit einem Katzenfell ausgelegt war. Kat wusste, dass Alma um ihren Mann trauerte. Aber die Witwe mochte ihre Trauer vor Fremden nicht zeigen.
«Ich glaube, er hat seinen Tod kommen sehen», sagte sie leise.
«Wieso?»
«Mein Bruder ist letzten Monat bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Vielleicht haben Sie in der Zeitung davon gelesen.»
«Mein Beileid», sagte Kat, der die Frau, die ihr gegenübersaß, leidtat. Schrecklich, in so kurzer Zeit zwei nahestehende Menschen zu verlieren. Ihre eigenen Eltern waren in großem Abstand voneinander gestorben, der Vater ganz plötzlich an einem Herzinfarkt, als sie achtzehn war, ihre Mutter war zwanzig Jahre später, im vergangenen Sommer, ihrem Krebsleiden erlegen. Jeder Verlust hatte sie schwer getroffen. Beide innerhalb nur eines Monats zu verlieren, wäre wohl kaum zu ertragen gewesen.
«Am Grab meines Bruders hat sich George als Erster ins Kondolenzbuch eingetragen. Er hat seinen Namen geschrieben und gesagt: ‹Sterben ist schrecklich, Alma.› So hat er vorher nie gesprochen, er hat den Tod nie erwähnt. Deshalb glaube ich, er hat geahnt, dass seine Zeit gekommen war.»
Kat hielt generell nicht viel von Vorahnungen, vor allem aber zweifelte sie daran, dass George Winnick von seinem bevorstehenden Tod gewusst hatte. In jedem Fall würde er sich ihn sicher nicht so schlimm vorgestellt haben.
«Ich habe ihm gesagt, er soll sich keine Sorgen machen», fuhr Alma fort und senkte den Blick. Zu ihren Füßen lag eine Katze mit milchigen Augen und nur drei Beinen. Es schien, dass sie zu ihr sprach. «Er war stark. Und groß. Wissen Sie, wie groß er war?»
«Nein.»
«Eins achtundachtzig», sagte sie ehrfürchtig und stolz. Kat war gerührt. «Ich komme aus einer Familie, in der alle eher klein sind. Als ich George das erste Mal sah, dachte ich, er wäre der größte Mann der Welt.»
«Hatte Ihr Mann Feinde? Oder gab es jemanden, der Streit mit ihm hatte?»
Alma schüttelte den Kopf.
«Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum irgendjemand meinem George etwas zuleide tun sollte. Er war ein guter Mann. Jeder mochte ihn. Er
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