Das Schweigen der Toten
deiner Vergangenheit herumstocherst, ohne …»
«Ich dachte, wir wollten das Thema abhaken», fiel er ihr ins Wort.
«Tun wir ja auch», erwiderte sie schulterzuckend. «Wir schweigen.»
Zum Glück hatten sie es nicht mehr weit. Ihr Ziel war fast erreicht.
Wenig später fuhren sie auf den Parkplatz der Gerichtsmedizin. Vor dem grauen, kastenförmigen Gebäude stand der Pathologe, den sie sprechen wollten, ein Mann, der seinerseits grau und kastenförmig war und eine Zigarette rauchte.
«Lieutenant Donnelly?», fragte er und blinzelte durch die Qualmwolke vor seinem Gesicht.
«Der bin ich.»
Der Mediziner streckte die Hand aus. «Wallace Noble. Ich hoffe, Sie hatten keine Probleme, hierherzufinden?», sagte er und hustete tief aus den Bronchien. «Verdammte Zigaretten», murmelte er, an einer Antwort offenbar nicht interessiert.
«Warum hören Sie nicht auf zu rauchen?», fragte Cassie.
Wallace zog wieder an seiner Zigarette und stieß einen Schwall Rauch durch die Nasenlöcher aus wie ein wütender Stier in einem Bugs-Bunny-Cartoon. «Seit vierzig Jahren untersuche ich nun schon Leichen und stelle deren Todesursache fest. Es tröstet mich einfach zu wissen, woran ich sterben werde.»
Er lachte hustend, ließ die Kippe fallen und trat sie mit der Schuhspitze aus. Nick registrierte, dass er Budapester trug.
«Also los, schauen wir uns den armen George an.»
Nick und Cassie folgten ihm ins Haus und durch einen langen Korridor, dessen Wände die Farbe von Erbsensuppe hatten. An seinem Ende bogen sie nach rechts ab und standen vor einer Tür mit der Aufschrift «Autopsie», wo sie Kittel anlegen und Schutzhüllen über die Schuhe streifen mussten.
George Winnicks Leiche lag auf einem Edelstahltisch in der Mitte des Raums. Die Halogenlampe, die darüber hing, warf einen breiten Lichtkegel auf die Haut, die so gleißend hell aufleuchtete, dass Nick zur Seite blicken musste, um seinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an das Licht zu gewöhnen.
«Kennen Sie schon die Todesursache?», fragte er.
«Ich habe ihn erst ein bisschen sauber gemacht und ein paar Spuren entdeckt, an Armen, Beinen und Stirn», antwortete Wallace.
«Was für Spuren?»
Wallace zuckte die Achseln. «Aus dem Stegreif würde ich sagen: Schürfwunden, verursacht durch ein Seil. Aber das muss erst nachgewiesen werden.»
Nick warf einen Blick auf Cassie, die sich bereits Notizen machte. Mörder, die ihre Opfer fesselten, waren meist clever und gut organisiert. Die Schürfwunden ließen also auf ein hohes Maß an Planung schließen. Dieser Mord, so viel wussten sie nun, war nicht im Affekt geschehen.
«Die Todesursache», fuhr Wallace fort, «werden wir erst feststellen, wenn wir die Leiche geöffnet haben.»
Er reichte Nick und Cassie je ein Paar Gummihandschuhe und streifte sich selber welche über. «Wonach suchen Sie eigentlich?»
«Wir würden gern wissen, was es mit den Nähten auf sich hat», sagte Nick. Er hatte die Handschuhe angezogen und näherte sich dem Tisch. «Es gibt da einen anderen Mörder, der mit Nadel und Faden zu Werke geht.»
«Der Betsy-Ross-Killer, stimmt’s?»
«Genau.»
«Hat man je erfahren, warum er seine Opfer zunäht?», fragte Wallace, so fasziniert wie abgestoßen.
«Wenn ich ihn erwische, werde ich ihn fragen.»
Wallace und Cassie gesellten sich zu ihm an den Tisch.
«Da hätten wir diese beiden Stellen.» Der Pathologe zeigte auf Mund und Hals.
Nick schaute genauer hin. Die Lippen waren mit wenigen groben Stichen zugenäht worden, während die Naht der kleinen Wunde am Hals sehr viel sorgfältiger ausgeführt worden zu sein schien.
«Was vermuten Sie?», fragte er Cassie.
Vorsichtig fuhr sie mit dem Finger über die Wunde.
«Auf den ersten Blick sieht es nach der Arbeit des Mannes aus, den wir suchen», antwortete sie. «Aber die Lippen … das ist ungewöhnlich.»
Der Betsy-Ross-Killer hatte sich bislang nie an den Gesichtern seiner Opfer zu schaffen gemacht.
Nick griff unter den Kittel und zog eine kleine Digitalkamera aus der Jackentasche. Als er sie vor einem Jahr gekauft hatte, waren ihm vom Verkäufer «wunderschöne» Urlaubsfotos vorausgesagt worden, doch bislang hatte er nur Leichen vor der Linse gehabt.
Über den Tisch gebeugt, machte er aus unterschiedlichen Blickwinkeln Aufnahmen von den Lippen.
«Was ist mit seinen Augen?», fragte Cassie.
Nick sah auf den Lidern zwei dünne rote Kreise.
«Da haben die Pennys gelegen», erklärte Wallace. «Direkt auf den Augen.»
«Aber
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