Das Schweigen der Toten
Form einer Laubsäge, deren blinkendes Licht Bewegung vortäuschte.
«Kaufen Sie ihm die Geschichte ab?», fragte Nick, als sie auf die Kneipe zusteuerten.
«Chuck wird uns gleich sagen, ob sie stimmt.»
«Vielleicht deckt er ihn.»
Kat schüttelte den Kopf. «Das glaube ich nicht.»
Beim Öffnen der Tür bimmelte ein Glöckchen. Unmittelbar darauf bimmelte noch etwas. Nick griff in seine Tasche und zog sein Handy hervor.
«Das wird Rudy sein oder Vasquez», sagte er und machte kehrt. «Bin gleich wieder da.»
Kat trat ein. Das Innere der Kneipe hielt, was das Äußere versprach. An den Wänden hingen sepiabraune Fotos vom alten Sägewerk und Arbeitern mit ausdruckslosen Gesichtern. Nicht weniger müde und verloren wirkten die beiden einzigen Gäste. Es schien fast, als kämen sie direkt aus den Fotos.
Der Wirt schenkte gerade eine weitere Runde aus. Sein Name war Chuck Budman. Er schob einen riesigen Bauch vor sich her, hatte tätowierte Unterarme und sah aus, als hätte er Haare auf den Zähnen. Aber Kat, die ihn seit ihrer Kindheit kannte, hatte auch immer wieder mal seine weichere Seite aufblitzen sehen. In der Vorweihnachtszeit sammelte er immer Spielzeug für die Kinder der Armen, und einmal im Monat fuhr er freiwillig Essen auf Rädern aus. Und als Vietnam-Veteran knatterte er am Memorial Day alljährlich auf seiner Harley nach Washington, D.C.
Als er Kat sah, erschien über seinem dichten ZZ -Top-Vollbart ein freundliches Lächeln.
«Ist es nicht ein bisschen zu früh für ein Bier, Chief?»
«Ich könnte tatsächlich eins gebrauchen, aber deswegen bin ich nicht hier.»
«Es geht um George, stimmt’s?»
«So ist es», antwortete Kat. «Und um einen deiner Stammkunden.»
«Glaubst du, jemand aus Perry Hollow könnte was mit dem Mord zu tun haben?»
«Ich kann’s jedenfalls nicht ausschließen. Lucas Hatcher sagt, er sei an dem Abend, als George getötet wurde, hier gewesen. Ist das richtig?»
Hinter Chuck hing ein kleiner Fernseher. Auf CNN liefen Nachrichten. Normalerweise hätte Kat nicht weiter darauf geachtet, doch als sie plötzlich ihren eigenen Namen hörte, rief sie:
«Mach mal lauter, Chuck.»
Der Wirt tat ihr den Gefallen. Die Stimme der Frau war jetzt deutlich zu hören.
«Chief Campbell bestätigte den Fund des Sarges, verweigerte aber weitere Auskünfte.»
«Kneif mich mal», sagte Chuck. «Da war gerade dein Name im Fernsehen.»
Und die Nachricht vom Mord an George Winnick. Im überregionalen Fernsehen. Kat warf einen Blick auf die Uhr über dem Tresen: Es war elf Uhr. Mit der landesweiten Bekanntgabe hatte sie erst in einer Stunde gerechnet.
«Also, was ist mit Lucas?», fragte Chuck Budman und stellte den Ton wieder leiser.
«War er Sonntagabend hier?»
Der Wirt grübelte eine Weile über der Frage und sagte dann: «Er war hier. Er ist jeden Abend hier.»
Lucas hatte also die Wahrheit gesagt. Gut für ihn, schlecht für Kat und ihre Ermittlungen. Trotzdem, dass er hier gewesen war, garantierte nicht unbedingt seine Unschuld. Was zählte, war die Zeitspanne, die er hier verbracht hatte. Laut Auskunft von Alma Winnick hatte George ungefähr zwanzig nach zehn in der Scheune nach dem Rechten gesehen. Es war durchaus möglich, dass Lucas die Tat begangen und sich kurz nach elf in der Kneipe gezeigt hatte.
«Weißt du noch, wann er aufgekreuzt ist?», fragte Kat.
«Ja», antwortete Chuck. «Ich habe nämlich gerade auf die Uhr gesehen, als er reinkam. Es war halb elf.»
«Bist du sicher?»
Chuck deutete auf die Uhr. «Die tickt richtig. Ich übrigens auch.»
Kat folgte seinem Finger mit den Augen und sah, dass die Zeiger der Holzuhr auf fünf nach elf standen. Dann schaute sie auf den Fernseher. Neben dem CNN -Logo war die Zeit eingeblendet. Fünf nach zwölf. Ein Blick auf die eigene Armbanduhr bestätigte ihr diese Angabe.
«Chuck, hast du die Uhr vorgestellt?»
Er kratzte sich am Bart. «Wie kommst du darauf?»
«Wir haben seit einer Woche Sommerzeit. Du hättest die Uhr um eine Stunde vorstellen müssen. Wohl vergessen, was?»
Chuck beeilte sich, das Versäumte nachzuholen. Seit über einer Woche hinkte das
Jigsaw
eine Stunde hinterher. Lucas Hatcher war also nicht um halb elf, sondern erst um halb zwölf aufgekreuzt, mit anderen Worten: Er hatte kein Alibi. Kat bedankte sich und ging zur Tür. Sie wollte Nick unterrichten und dann zum Friedhof zurückkehren, um Lucas zum Verhör vorzuladen. Vielleicht erkannte er ja den Ernst der Lage und gestand.
Nick hatte
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