Das Schweigen der Toten
Haus verbracht, bin gewissermaßen dort aufgewachsen.»
Ihre Stimme klang etwas traurig. Es schien, als wollte sie das Thema nicht weiter ausführen. Henry konnte es nachempfinden. Auch er hatte viel zu erzählen, hielt sich aber lieber bedeckt.
«Ich war zehn und Martin zwölf, als unser Vater starb», fuhr sie fort. «Er arbeitete im Sägewerk, wie fast jeder Mann in der Stadt. Eines Tages kam es zu einem Unfall – seinem zweiten. Vom ersten hatte er nur eine Narbe davongetragen, der zweite war weniger glimpflich. Genaues weiß ich nicht, und ehrlich gesagt möchte ich es auch nicht wissen. Ich weiß nur, dass er eines Morgens zum Sägewerk ging und nie mehr nach Hause zurückkam. Das hat uns schrecklich getroffen, jeden von uns. Martin war am Boden zerstört. Ich auch. Ich war Daddys Liebling.»
Henry verzichtete auf eine Beileidsbekundung. In seinem beruflichen Alltag hörte er sie so oft, dass sie ihm bedeutungslos erschienen. Jemandem zu sagen, dass es einem leidtut, konnte den Schmerz nicht lindern. Also sagte er nichts und ließ Deana ungestört weitererzählen.
«Dann starb meine Mutter einen Monat nach meinem Highschool-Abschluss. Arthur McNeil war mir eine große Hilfe. Er hat die Bestattungskosten übernommen, sich um alles gekümmert und mir anschließend die freie Stelle meiner Mutter angeboten.»
«Sehr freundlich von ihm», bemerkte Henry. «Mir scheint, nicht Sie haben sich Ihren Job ausgesucht, sondern der Job Sie.»
«Könnte man so sagen. So ist nun mal das Leben, oder? Was wir planen und was dann passiert, stimmt selten überein. Zum Beispiel habe ich schon als junges Mädchen davon geträumt, in Paris zu wohnen. Ich habe in der Schule Französisch gewählt, um mich darauf vorzubereiten. Aber nach dem Tod meiner Mutter ist mir schnell klar geworden, dass Paris für mich nicht in Frage kommt.»
«Bei mir war’s Italien.»
Henry versuchte, sich zurückzuhalten. Es überraschte ihn selbst, wie bereitwillig er Auskunft gab. Aber der Scotch und seine Erschöpfung machten ihn gesprächig.
«Ich wollte in Mailand leben, habe gelernt, fließend italienisch zu sprechen und mich über italienische Küche, Weine und Musik informiert. Ich hatte mir sogar schon eine Wohnung gesucht.»
«Und warum sind Sie nicht dorthin gezogen?»
Diesmal gelang es Henry, sich zurückzuhalten. Selbst unter dem Einfluss von Alkohol und Schlafmangel schmerzte ihn diese Antwort zu sehr.
«Es ist etwas dazwischengekommen», murmelte er.
Deanas Blick huschte über den Brandfleck und die Narbe, kurz und flüchtig nur, aber es fiel Henry trotzdem auf.
«Und anschließend haben Sie sich auf Nachrufe verlegt? Martin sagt, Sie seien früher ein sehr guter Reporter gewesen.»
Früher. Jetzt war er ein bescheidener Texter, und das reichte ihm.
Vor langer Zeit, einem ganzen Leben, wie es schien, hatte er als Polizeireporter der
Pittsburgh Post-Gazette
von sich reden gemacht. Er hatte seinen Job geliebt, war wirklich gut gewesen und der Star der Redaktion, hatte Lob und Preise bekommen.
Dann hatte sich alles geändert. Sein Gesicht. Sein Leben. Seine ganze Sicht auf das Leben. Im Bruchteil einer Sekunde, nachts auf der Interstate 279.
Nach dem Unfall hatte er bei seinem Verlag gekündigt und war nach Perry Hollow gezogen. Das hatte mit Mailand überhaupt nichts zu tun. Aber es war abgelegen genug für jemanden, der verschwinden und alles hinter sich lassen wollte. Vor allem seine Erinnerungen.
Doch kaum hatte er sich in seiner neuen Umgebung eingerichtet, musste er feststellen, dass ihm die Erinnerungen an Gia dort ebenso hartnäckig nachhingen wie in Pittsburgh, und ihm wurde klar, dass er sich nie davon würde befreien können.
«Ja, jetzt schreibe ich Nachrufe», sagte er. «Gute Nachrufe. Für die meisten Menschen bin ich derjenige, der die letzten Worte überhaupt über sie aufschreibt. Eine wichtige Aufgabe, die ich sehr ernst nehme. Ich versuche, sie mit Anstand und Würde zu versehen.»
«Klingt nobel.»
«Das ist es auch. Wie schnell sind Tote vergessen, gerade in der heutigen Zeit. Man trauert ein bisschen und macht dann weiter wie gehabt. Ich schreibe gegen das Vergessen an und sorge dafür, dass Menschen in Erinnerung bleiben.»
«So schnell vergisst man nicht», entgegnete Deana. «Zugegeben, die meisten machen weiter wie gehabt. Dazu sind sie gezwungen. Sie müssen arbeiten, Kinder großziehen, Kontakte pflegen. Das Leben geht weiter, und man darf sich nicht unterkriegen lassen. Dadurch ist der Tote
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