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Das Schweigen der Toten

Das Schweigen der Toten

Titel: Das Schweigen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
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etwas länger ausharren als erwartet. Die Luft reichte noch für zehn Minuten. Ruhig Blut, redete er sich ein. Einatmen, zählen, ausatmen.
    Es half nicht. Gia kam ihm in den Sinn, wie so oft. Auch sie lag in einem Sarg, vielleicht einem ganz ähnlichen, und das schon sehr viel länger, nämlich seit fünf Jahren. Er selbst durfte hoffen, nach spätestens zehn Minuten wieder draußen zu sein.
    Er hatte es nicht über sich gebracht, zu Gias Beerdigung zu gehen. Sie war ohne sein Beisein begraben worden, irgendwo auf einem Friedhof im Osten von Pittsburgh.
    In all den Jahren seit ihrem Tod hatte er nie ernstlich in Betracht gezogen, ihr Grab zu besuchen. Wenn er davorstünde, mit dem Wissen, dass sie unter einer dicken Schicht aus Erde und Gras begraben lag, würde ihm das seinen Verlust allzu schmerzlich wieder in Erinnerung rufen.
    Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der tröstlich und erschreckend zugleich war. Hier, eingeklemmt in diesem Sarg, war er ihr wieder so nahe wie seit fünf Jahren nicht. Obwohl weit voneinander entfernt, teilten sie gewissermaßen dieselbe Erde. Es war ein furchtbarer Gedanke, der, wie der Besuch ihres Grabes, keinen Zweck hatte, und doch faszinierte er ihn. Für eine Weile vergaß er das Gefühl der Enge, die knapp werdende Atemluft und das Knarren des Deckels.
    Bewegungsunfähig, mit dem Ticken der Uhr im Ohr, das ihn verrückt machte, fühlte er Gias Gegenwart. Wenn er es nur entschieden genug versuchte, wenn er den Sarg sprengte und mit den Armen durch die Erde langte, würde er sie vielleicht berühren können.
    «Das ist krank», sprach er laut in die Stille des Sarges. «Du bist krank, Henry.»
    Das Sprechen fiel ihm schwer. Die Luft in seiner Lunge fühlte sich an wie Schlamm. War diese Empfindung neu, oder hatte er sie bislang nicht zur Kenntnis genommen? Verschlimmerte sich seine Lage?
    Er presste wieder die Lippen aufeinander, atmete und zählte.
    Obwohl er entspannt zu bleiben versuchte, spürte er eine zunehmende Beklemmung in der Brust. Er konnte seine Atmung nicht länger kontrollieren. Zähneknirschend sog er die verbrauchte Luft tief in sich ein und begann zu hecheln. Er hörte jetzt nur noch seine Lungen pfeifen.
    Wahrscheinlich blieben ihm nur noch fünf Minuten, womöglich weniger. Die Luft war warm und schwer, was darauf schließen ließ, dass sie bald verbraucht sein würde.
    Zum ersten Mal hielt er es für möglich, dass er in diesem Loch sterben musste. Nervös war er von Anfang an gewesen, aber nicht so nervös, dass ihm davon schlecht geworden wäre, eher kribbelig, als sähe er einen Horrorfilm.
    Jetzt aber packte ihn nackte Angst. Sie hatte ihn im Würgegriff und ließ ihn nicht wieder los. Er drohte zu ersticken. Sein Gehirn litt unter Sauerstoffmangel, daran war nun kein Zweifel mehr, er wurde schon ganz verrückt davon und glaubte, seiner toten Frau die Hand reichen zu können.
    Er musste schnellstens raus aus dem Sarg, egal, ob Lucas’ Festnahme glückte oder nicht.
    Er senkte den Daumen auf den glatten Pager in seiner Hand, holte tief Luft und drückte den Schalter.
     
    Ungeduldig warf Nick einen Blick auf seine Uhr. Fünf Minuten waren verstrichen, und er konnte nicht länger warten. Jetzt oder nie.
    Er stopfte Kopfhörer und Aufnahmegerät in die Tasche und machte sich auf den Weg, durch dichten Nebel an Eichen und Grabsteinen entlang. Als er die Laterne schimmern sah, wich er zur Seite, um sich unbemerkt im weiten Bogen von hinten zu nähern.
    Geduckt, mit der Pistole im Anschlag, schlich er auf die Laterne zu, von einem Grabstein zum nächsten.
    Bald sah er Lucas’ Silhouette, umrissen von gelblichem Licht. Der Totengräber schaufelte Erde in das Loch vor seinen Füßen. Als er sich abwandte, um seine Schaufel in den Aushub zu stechen, sprang Nick aus der Deckung.
    «Lucas Hatcher, Hände hoch! Polizei!»
    Lucas brauchte einen Moment, um zu begreifen, was passierte. Er erstarrte und hielt die Schaufel mit beiden Händen umklammert.
    «Machen Sie’s nicht unnötig kompliziert, tun Sie, was ich Ihnen sage», befahl Nick. «Lassen Sie die Schaufel fallen, heben Sie die Arme, und ich bin ein glücklicher Mann.»
    Lucas schien nachzudenken. Seine Augen bewegten sich hin und her. Für Nick war die Sache sonnenklar – entweder ließ der Kerl die Schaufel fallen, oder er handelte sich eine Kugel ein.
    Der Totengräber dachte anders. Er ließ zwar die Schaufel fallen, wich aber zurück.
    «Stehen bleiben!»
    Lucas hörte nicht. Er kehrte Nick den Rücken und

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