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Das Schweigen der Toten

Das Schweigen der Toten

Titel: Das Schweigen der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Todd Ritter
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zuschaufelte, in dem Henry steckte, hätte er allen Grund, ihn zu verhaften.
    Darum hielt sich Nick zurück. Er wollte nicht alles ruinieren. Noch nicht. Mit Blick auf seine Armbanduhr nahm er sich vor, noch fünf Minuten zu warten. Das würde ausreichen. Wäre Henry dann immer noch nicht unter der Erde, würde es an diesem Tag wohl auch nicht mehr dazu kommen.
    Andernfalls blieb nur zu hoffen, dass Henry seine Entscheidung nicht jetzt schon bereute.
     
    Henry hörte die Erde auf den Sarg fallen und versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Er würde bestimmt nicht lange aushalten müssen, und wenn er nur flach genug atmete, bliebe genügend Luft. Er musste also Ruhe bewahren.
    Doch das war leichter gesagt als getan, denn bei jeder Schaufel Erde, die auf den Deckel polterte, zuckte er innerlich zusammen. Seine Zähne klapperten.
    Kaum eine Minute eingeschlossen, lechzte er schon nach frischer Luft. Dennoch widerstand er der Versuchung, tief einzuatmen, und hielt stattdessen nach jedem flachen Atemzug die Luft an, zählte bis drei und atmete dann langsam durch die Nase aus.
    Vorsichtig hob er die Brust, um etwas Luft in sich aufzunehmen.
    Eins … zwei … drei.
    Ausatmen.
    In der undurchdringlichen Dunkelheit schärften sich die übrigen Sinne. Er nahm einen unangenehmen Geruch wahr, der ihm bislang nicht aufgefallen war – nach altem Schweiß, Schimmel und Dreck. Unter seinen tastenden Fingern spürte er die kalte Glätte des Satinbezugs, der kleine Unebenheiten aufwies. Außer den Geräuschen der herabfallenden Erde hörte er auch, wie seine Schultern an den Wänden schabten. Sein Magen grummelte. Sogar das Ticken der Armbanduhr war zu hören.
    Er versuchte, eine Minute lang die Sekunden zu zählen. Wie lange er nun schon ausharrte, wusste er nicht. Zwei Minuten vielleicht. In spätestens zwei Minuten würde er wieder draußen sein und zusehen, wie Lieutenant Donnelly Lucas Hatcher Handschellen anlegte.
    Nach weiteren dreißig Sekunden bemerkte Henry, dass er, auf das Ticken der Uhr konzentriert, seine rationierte Atmung außer Acht gelassen hatte und tief durch den Mund einatmete.
    Er presste die Lippen aufeinander, atmete durch die Nase ein und zählte.
    Eins … zwei … drei.
    Als er wieder ausatmete, vernahm er ein Geräusch, das nicht von seinen Bewegungen stammte. Er hielt die Luft an und lauschte angestrengt.
    Da hörte er es wieder, es kam von der rechten oberen Ecke des Sarges. Beim dritten Mal zog es sich in die Länge, ein Knarren, das Henry nach einer Weile zu deuten wusste.
    Der Deckel knarrte unter der Last der Erde.
    Henry biss die Zähne aufeinander, entschlossen, sich keine Sorgen zu machen. Natürlich knarrte es. Alles knarrte, wenn es belastet wurde. Betten. Stühle. Sogar seine Gelenke, wenn er morgens aus dem Bett stieg. Dass etwas knarrte, war ganz natürlich. Der Deckel würde schon nicht in sich zusammenbrechen.
    Trotzdem machte ihn das Geräusch zunehmend nervös. Es verstärkte das Engegefühl, sein Verlangen, sich zu bewegen. Die Arme klemmten an den Seiten, und er konnte nur die Hände heben, mehr nicht. Er hob sie, so weit er konnte, und streifte mit den Knöcheln über das Innenfutter des Deckels.
    Er konzentrierte sich auf den festen Vorsatz, nur ja nicht in Panik zu geraten. In einer Minute würde er wieder draußen sein. Spätestens in zwei.
    Er atmete ein.
    Er zählte.
Eins … zwei … drei.
    Atmete aus.
    Inzwischen hörte er das Knarren auch auf der anderen Seite. Den Pager fest umklammert, strich er mit dem Daumen über den Schalter in der Mitte. Aber noch wehrte er sich gegen den Drang, ihn zu drücken. Er musste Nick genügend Zeit lassen, Lucas festzunehmen, also noch eine Weile still liegen, kontrolliert atmen und warten.
    Es waren bereits mehrere Minuten verstrichen. Fünf mindestens. Lucas hatte gesagt, dass die Atemluft allenfalls für eine Viertelstunde reichte. Nach zehn Minuten würde sie knapp werden.
    Die Zahl hakte sich in seinem Hirn fest.
    Zehn Minuten.
    Das war nicht viel, überhaupt nicht viel. Wenn Nick Lucas festgenommen hätte, würde er den Sarg wieder ausgraben müssen. Und das konnte dauern. Ein Loch auszuheben dauerte länger, als eines zuzuschütten. Selbst wenn Nick dem Totengräber in diesem Moment Handschellen anlegte, würde er wahrscheinlich mindestens fünf Minuten brauchen, um den Sargdeckel wieder freizulegen.
    Henry wollte nicht länger darüber nachdenken. Nick wusste, wo er war, und würde ihn nicht im Stich lassen. Er musste eben

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