Das Schweigen der Toten
Sie auf den Knopf, wenn Sie rauswollen. Ich höre dann ein Piepsen und bin sofort zur Stelle.»
Henry hob den Pager vors Gesicht und sah den erwähnten Knopf, einen flachen Plastikschalter. Probehalber drückte er darauf und hörte es Sekunden später in Lucas’ Tasche tatsächlich piepen.
«Na bitte.» Lucas holte ein identisches Gerät hervor, auf dem ein grünes Kontrolllicht blinkte. «Funktioniert.»
«Ist das wirklich notwendig?»
Lucas schaltete seinen Pager aus. Das Piepen verstummte. Auf dem Friedhof war es wieder totenstill.
«Wenn Sie irgendwann wieder rauskommen wollen, schon», sagte er.
«Wie lange kann ich drinbleiben?»
«Nach einer Viertelstunde wird die Luft knapp. Aber so lange hat’s noch nie jemand ausgehalten.»
Die letzte Bemerkung war offenbar als Anreiz zu verstehen, das Schicksal herauszufordern und einen Rekordversuch zu wagen. Henry dachte nicht daran. Er hatte nicht vor, länger als eine Minute in dem Sarg zu bleiben.
«Wenn Sie einen Wecker dabei haben, sollten Sie ihn jetzt stellen», riet Lucas. «Für den Fall, dass Sie einschlafen oder so.»
Henry bezweifelte, dass er in dieser unbequemen Lage einschlafen konnte. Er würde gar nicht erst die Augen zumachen. Trotzdem stellte er den Wecker seiner Armbanduhr, in erster Linie, um Lucas zu täuschen. In fünfzehn Minuten würde das Ding losgehen. Er schaute nach oben und sagte: «Ich bin bereit.»
Lucas schloss zuerst die untere Deckelhälfte, die Henry bis zur Hüfte reichte. Er atmete tief durch und wehrte sich gegen den Impuls, mit den Beinen zu treten. Tatsächlich gelang es ihm, sich ein wenig zu entspannen, obwohl das beklemmende Engegefühl nicht nachließ. Lucas streckte den Arm aus und griff nach der oberen Deckelhälfte.
«Viel Vergnügen», sagte er. «Ich bleibe hier an Ort und Stelle und warte auf Ihr Signal.»
Er gab wieder dieses zischende Kichern von sich, als der Deckel über Henrys Gesicht mit ohrenbetäubendem Knall zuklappte.
Als Erstes fiel Henry auf, dass es vollkommen anders war, in einem Sarg zu liegen, dessen Deckel geschlossen war. Er fühlte sich sofort noch beengter. Und bekam sehr schnell Platzangst. Sein Körper wand sich, auf allen Seiten umgeben von den muffig riechenden Satinwänden.
Es war erschreckend dunkel, so schwarz um ihn herum, dass er fürchtete, erblindet zu sein und nie wieder Licht sehen zu können. Um Fassung bemüht, senkte er sein Kinn und flüsterte ins Mikrophon: «Ich bin im Sarg eingeschlossen. Hoffe, Sie können mich noch hören.»
Plötzlich vernahm er wenige Zentimeter über seinem Gesicht ein Geräusch. Ein dumpfes Poltern und Rieseln entlang der Seitenwände. Erst als sich das Geräusch wiederholte, ahnte Henry, was es bedeutete.
Lucas Hatcher tat, wofür er bezahlt worden war. Er schaufelte Erde auf den Sarg. Mit Entsetzen wurde Henry klar, dass er buchstäblich lebendig begraben wurde.
Dreiundzwanzig
Nick kauerte hinter einer marmornen, von feuchtem Nebel umhüllten Gruft. Sämtliche Glieder taten ihm weh, weil seine Haltung so unbequem war. Sein Körper sehnte sich nach Entspannung. Doch wie so oft setzte sich auch diesmal sein Wille durch, und sein Wille, Lucas Hatcher zu stellen, war so stark, dass er, wenn nötig, die ganze Nacht auf dem Friedhof verbringen würde.
Er hatte das Gespräch zwischen Henry und dem Totengräber über Kopfhörer mitverfolgt. Auf seinem Schoß lag ein Aufnahmegerät, das jedes Wort aufzeichnete.
Allerdings gab es nichts mehr aufzuzeichnen.
«Ich bin bereit.»
Dieser Satz, vor einigen Minuten gesprochen, war das Letzte gewesen, was Nick von Henry gehört hatte. Danach war der Kontakt abgebrochen, und jetzt rauschten ihm nur noch statische Interferenzen in den Ohren.
Mit angehaltenem Atem wartete er auf ein Lebenszeichen von Henry. Vergeblich. Er schüttelte das Aufnahmegerät, doch es half nichts. Die Funkverbindung war gestört.
Es war anzunehmen, dass Henry mehr als diesen letzten Satz gesagt hatte, er konnte nur ahnen, was. War Henry jetzt in dem Sarg, begraben, wie von Lucas versprochen? Oder befand er sich noch außerhalb des Grabes und befragte weiter den Totengräber?
Es war nicht schwer, das herausfinden. Nick hätte nur einmal über den Friedhof laufen müssen, um zu sehen, wo Lucas sein morbides Gewerbe betrieb. Aber wenn Henry noch neben dem Grab stünde, wäre die Aktion damit beendet. Lucas wüsste Bescheid, und Nick hätte nichts gegen ihn in der Hand. Falls er Lucas dabei erwischte, wie er den Sarg
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