Das Schweigen der Toten
das im Kragen steckte. Er kehrte dem gelblichen Schein den Rücken, senkte das Kinn und flüsterte ins Mikrophon:
«Test, Test. Eins. Zwei. Drei.»
Er blickte den Weg entlang, den er gekommen war, und sah im Nebel zweimal das Licht einer Taschenlampe blinken. Nick Donnelly signalisierte ihm, dass die Übertragung funktionierte.
«Ich gehe jetzt weiter», sagte er ins Mikro.
Er setzte seinen Weg fort und ließ sich die Ereignisse durch den Kopf gehen, die ihn hierhergeführt hatten. Vor wenigen Monaten noch war er Henry Ghoul gewesen, der mit seiner Einsamkeit sehr zufrieden war. Dann aber hatte sein Leben eine unerwartete Wendung genommen. Hätte man ihm im Februar vorhergesagt, dass er der Polizei helfen würde, einen Serienmörder zu stellen, wäre er womöglich selbst Amok gelaufen.
Er näherte sich dem Licht und erkannte bald eine Laterne, die auf einem Grabstein stand. An dem Grabstein nebenan lehnte ein stämmiger Mann mit dreckverschmierter Jeansjacke. Als er Henry sah, hörte er auf zu pfeifen.
«Wer sind Sie?»
Henry räusperte sich und hob die Stimme, um sicherzustellen, dass dem Mikrophon nichts entging. «Sind Sie Lucas Hatcher?»
«Je nachdem», antwortete der Mann. «Sind Sie von der Polizei?»
«Natürlich nicht.»
«Kommen Sie näher, damit ich Sie sehen kann.»
Henry trat in den Lichtschein der Laterne. Lucas musterte ihn mit argwöhnischem Blick.
«Was wollen Sie?»
«Ich habe von einer gewissen Dienstleistung gehört, an der ich interessiert bin.»
Lucas’ Blick wanderte nach rechts. Dort sah Henry einen frischaufgeworfenen Erdhügel, davor eine ausgebreitete Plane.
«Über wen haben Sie davon erfahren?», wollte Lucas wissen.
«Ist das wichtig? Ich bin interessiert. Nennen Sie mir Ihren Preis.»
«Hundert. In bar. Nicht rückzahlbar. Wenn Sie am Ende kneifen, haben Sie Pech gehabt.»
«Hat denn schon mal jemand gekniffen?»
Lucas kicherte. «Das tun die meisten. Vor ein paar Tagen war da so eine kleine Göre, die schon nach zehn Sekunden in der Kiste anfing zu schreien. Ihr Freund hat gelöhnt. Der war vielleicht sauer.»
«Wie lange kann ich denn drinbleiben?», fragte Henry. «Vorausgesetzt, ich kneife nicht.»
«Erst will ich die Knete sehen, dann können Sie Fragen stellen.»
Henry zückte seine Brieftasche. Das Geld gehörte Nick, er hatte es auf dem Weg zum Friedhof aus einem Automaten gezogen. Henry hoffte, der Lieutenant würde die Ausgabe später nicht bereuen.
Lucas zählte das Geld und steckte es ein. «Okay.»
Henrys Antwort war in erster Linie für Nick bestimmt. «Gut», sagte er und senkte das Kinn etwas in Richtung Mikrophon. «Ich bin bereit.»
Lucas zerrte die Plane weg und brachte ein rechteckiges Loch zum Vorschein. Auf dem Grund lag ein dunkelgrauer Sarg mit gewölbtem Deckel, der Henry an ein U-Boot erinnerte – schwer, solide, undurchdringlich.
«Woher haben Sie den?»
«Das ist mein kleines Geheimnis.»
Lucas legte sich am Rand des Grabes auf den Bauch und klappte den Sargdeckel auf, der aus zwei Hälften bestand. «Also los», sagte er und winkte mit der Hand. «Springen Sie rein.»
Als Henry in den offenen Sarg starrte, schwante ihm, dass er sich wohl tatsächlich dort hineinbegeben und wer weiß wie lange darin liegen musste. Der Boden, die Seiten und der runde Deckel waren mit weißem Satin ausgeschlagen, der an einigen Stellen gelblich verfärbt war. Am Kopfende lag ein kleines Kissen, ebenfalls mit Satin bezogen.
«Ist der Sarg gebraucht?»
«Ob da schon mal ’ne Leiche drin gelegen hat?»
Henry nickte. Genau das wollte er wissen.
Lucas kicherte wieder und zischte dabei wie eine Ratte. Henry war von den Lauten, die er von sich gab, fast ebenso angewidert wie vom Anblick des Sarges.
«Nee. Bislang waren nur Lebende drin – soweit ich weiß.»
Henry holte tief Luft, stieg in den Sarg und setzte sich.
«Und jetzt langlegen», sagte Lucas.
Henry streckte sich aus. Trotz des Futters aus Satin war der Sarg alles andere als bequem und viel zu klein für sein stattliches Format, sowohl der Länge nach als auch in der Breite. Er musste die Schultern einziehen und die Knie anwinkeln, um Platz darin zu finden.
Sein Puls beschleunigte sich, die Beine begannen zu zucken, und es drängte ihn nach draußen.
Lucas kniete am Rand des Grabes und sah zu ihm herunter. «Fertig?»
Henry zwang sich zu einem Kopfnicken.
Lucas zog einen schwarzen Pager aus einer Jackentasche und steckte ihn Henry in die Hand. «Den werden Sie brauchen. Drücken
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