Das Schweigen der Toten
rannte los.
Nick setzte ihm nach und stürzte sich auf ihn. Lucas schrie und schlug wie wild um sich, doch Nick ließ nicht locker und zwang ihn in die Bauchlage.
«Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen es nicht unnötig kompliziert machen», sagte er und fesselte Lucas’ Hände auf dem Rücken. «Warum hören Sie nicht einfach auf mich?»
Als er die Handschellen zudrückte, sah er den Pager an Lucas’ Jeansgürtel hängen. Das grüne Kontrolllicht flackerte.
Nick hatte Henry nicht vergessen. Er wusste, dass er ihn so bald wie möglich aus dem Sarg holen musste. Aber dieses Bald ließ länger auf sich warten als beabsichtigt, und der arme Henry war immer noch eingeschlossen.
Nick griff nach der Schaufel, was sich im Nachhinein als ungünstig erwies. Lucas witterte eine letzte Chance und ergriff sie.
Er wälzte sich auf den Rücken, trat Nick mit beiden Beinen in die Knie und schickte ihn der Länge nach zu Boden. Zwei Sekunden später war Lucas auf den Beinen und hastete davon.
Nick sprang auf und rannte ihm nach. Als er nah genug an ihm dran war, machte er einen Satz und stürzte sich wieder auf ihn. Sie schienen im Kampf einen Moment lang in der Luft zu verharren, dann fielen beide ins offene Grab.
Henry hatte den Eindruck, als sei über seinem Kopf eine Bombe geplatzt. Ächzend gab der metallene Sargdeckel nach, senkte sich, nach unten ausgebeult, auf sein Gesicht und berührte fast die Nasenspitze.
Etwas rieselte auf ihn herab. Entsetzt schrie er auf und spürte, wie das Geriesel im Mund zu einer übelschmeckenden Paste wurde.
Erde. Sie sickerte in den Sarg, auf sein Gesicht.
Henry spuckte aus und drehte den Kopf zur Seite, um Mund und Nase zu schützen. Der Dreck häufte sich nun auf der Wange und drang ins Ohr. Er verstopfte den Gehörgang, sodass er alle Geräusche nur noch gedämpft und wie von Ferne wahrnahm.
Er drehte den Kopf auf die andere Seite und versuchte, den Dreck abzuschütteln, doch es war zwecklos. Immer mehr Erde rieselte auf ihn herab. Die Begleitgeräusche erinnerten ihn an Käfer und Schlangen und andere Dinge, die er sich nicht vorstellen mochte.
Es klang, als versuchte jemand, sich zu ihm ins Grab zu legen. Er glaubte, eine Hand zu spüren, die, tot und verwest, nach ihm griff.
Er stellte sich Gias Hände vor, jene zarten Hände, die ihn früher so sanft gestreichelt hatten, nun aber den Sarg durchbrachen. Jetzt, da er mit ihr unter der Erde lag, wollte sie ihn nicht gehen lasssen.
Aus dem Rieseln schien ein Zischlaut zu werden, als riefe jemand nach ihm.
Bleib
, zischte es.
Bleib.
Es war Gia. Davon war er überzeugt. Sie versuchte, mit ihm zu reden, ihn dazu zu bringen –
Bleib.
Und dann hörte er noch etwas, das noch entsetzlicher war als die rieselnde Erde: ein schrilles, andauerndes Piepen, das sogar durch seine verstopften Ohren noch laut klang.
Der Wecker seiner Uhr hatte sich eingeschaltet.
Seit fünfzehn Minuten steckte er nun schon in dem geschlossenen Sarg, was ihn so erschreckte, dass alle anderen Gedanken und Eindrücke darüber wie weggeblasen waren. Gias Bild verblasste. Auch spürte er nicht länger die Erde auf sich herabrieseln, hörte kein Knarren mehr. Er dachte nur noch daran, dass er schon eine Viertelstunde lang unter der Erde lag. Das Limit war erreicht und wurde ab jetzt mit jeder Sekunde überschritten.
Bald, sehr bald würde er ersticken.
Daran ließ seine Uhr, die nicht aufhören wollte zu piepen, keinen Zweifel. Er versuchte, sie auszuschalten, kam aber mit der Hand nicht heran. Ihm fehlte der Bewegungsspielraum. Das Piepen dauerte an, es übertönte alles andere und läutete sein Ende ein.
Der Versuch, den Arm zu befreien, war so anstrengend, dass es ihm den Atem nahm. Die Lungen ächzten, die Kehle war wie zugeschnürt.
Er brauchte Luft. Er musste raus, weg von dem entsetzlichen Piepen, dem Dreck, von Gias Stimme, die ihn anflehte zu bleiben.
Er beugte den Rücken, rutschte mit dem Kopf vom Kissen und winkelte die Beine an, bis die Knie den Deckel berührten. Die Füße gegen das untere Ende des Sarges gestemmt, bäumte er sich auf, in der Hoffnung – auf was? Er wusste es nicht. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dazu fehlte ihm die Zeit. Er schwebte zwischen Leben und Tod, er musste handeln.
Ein zweites, ein drittes Mal bäumte er sich auf. Erdkrumen regneten auf ihn herab, prasselten auf die Stirn. Er zerfetzte mit den Fingernägeln den Satinbezug des eingebeulten Deckels. Seine Lungen drohten zu bersten. Sie
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