Das Schweigen der Toten
Hand fort. Henry beugte sich ihr entgegen und genoss es, ihre zarte Haut auf seiner zu spüren.
Durch die blutverschmierte Windschutzscheibe sah er den Lastwagen unausweichlich näher kommen. Gleich würden sie aufeinanderprallen. In wenigen Sekunden. Den letzten Sekunden, die er mit seiner geliebten Frau verbringen würde.
Wieder rann eine Träne herab. Sie tropfte auf Gias Hand und rann ihr über die Knöchel.
«Ich werde dich vermissen.»
«Ich weiß», erwiderte Gia. «Du musst jetzt Abschied von mir nehmen und dein Leben fortsetzen.»
Der Lastwagen ragte wie eine Mauer vor ihnen auf. Das Ende nahte.
Henry ergriff ihre Hand und küsste sie. «Ich liebe dich.»
Nur noch wenige Meter bis zum Aufprall, der ihm Gia entreißen würde. Irgendwie ahnte er, dass er ihr Gesicht nie mehr wiedersähe, nicht einmal in seinen Träumen. Er drückte ihre Hand an seine Lippen und hielt sie fest.
Das Auto bohrte sich in den Lastwagen. Glas splitterte, Blech umschloss ihre Körper.
Henry spürte, wie sich Gias Hand von seinem Gesicht löste. Er griff nach ihr und bekam zwei Finger zu fassen, hielt verzweifelt an ihnen fest und versuchte, sich die Erinnerung an ihre Berührung einzuprägen. Auf diese Weise würde er sie nie vergessen.
Doch dann musste er von ihr ablassen.
Als er aufwachte, wusste Henry, dass sich der Traum nicht mehr wiederholen würde. Es war ein für alle Mal vorbei damit, was ihn erleichterte und zugleich traurig stimmte. Vielleicht, so hoffte er, würde er seine Frau in anderen, glücklicheren Träumen wiedersehen.
Henry reckte sich und stand auf, entschlossen zu tun, wozu ihm Gia im Traum geraten hatte. Er musste Abschied von ihr nehmen.
Er sprang unter die Dusche und rasierte sich. Als er angezogen war, buchte er per Telefon eine Zugfahrt und ein Hotelzimmer in Pittsburgh. Er packte seinen Koffer, schrieb dann seine Kündigung und adressierte sie an den Verleger der
Perry Hollow Gazette
.
Nachdem er den Brief aufgegeben hatte, ging er zu Deanas Haus. Die Tür war unverschlossen. Er trat ein und hörte Deana in ihrem Schlafzimmer hantieren. Sie machte sich schön für den Restaurantbesuch, zu dem es nicht kommen würde.
«Ist da jemand?», rief sie.
Henry ging die Treppe hoch. «Ich bin’s.»
Deana kam ihm entgegen. Sie trug noch ihren Bademantel, hatte sich aber schon frisiert und geschminkt.
«Du bist früh», sagte sie. «Oder habe ich zu lange gebummelt?»
Ihre Miene wurde ernst, als Henry sagte: «Wir müssen reden.»
Wortlos ergriff sie seine Hand und führte ihn ins Schlafzimmer. Er nahm auf der Bettkante Platz, richtete seinen Blick auf das Foto ihrer leidgeprüften Familie und fing an, von seiner leidvollen Geschichte zu erzählen.
«Vor fünf Jahren starb meine Frau bei einem Autounfall. Ich wurde schwer verletzt. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie im neunten Monat schwanger. Die Notärzte haben das Kind nicht retten können.»
Henry wartete auf eine Entgegnung. Deana legte ihm eine Hand auf den Arm und gab ihm damit zu verstehen, dass er weiterreden möge. Er schilderte, was vor, während und nach dem Unfall geschehen war und ließ nichts aus. Es war sein zweites Geständnis innerhalb weniger Tage.
Als er alles gesagt hatte, lehnte Deana ihren Kopf an seine Schulter und sagte: «Ich wusste davon, Henry. Mein Bruder hat es mir schon vor Monaten gesagt.»
Henry war mehr als überrascht. Deana hatte die ganze Zeit Bescheid gewusst und nie ein Wort darüber verloren.
«Warum hast du nichts gesagt?»
«Es gab doch keinen Grund.» Sie hob die Hand und streichelte mit den Fingerspitzen über die gefleckte Haut an seiner Schläfe. «Versuchen wir nicht alle, unsere Schattenseiten unter Verschluss zu halten, um Schmerzen zu vermeiden? Das war auch der Grund, warum du nach Perry Hollow gezogen bist, nicht wahr?»
«Ja. Ich habe gehofft, meinen Nöten entfliehen zu können. Jetzt weiß ich, dass das nicht möglich ist.»
Deana ließ ihre Hand sinken.
«Du wirst wieder weggehen, stimmt’s?»
Henry nickte. «Es tut mir leid, aber ich muss.»
«Kommst du zurück?»
«Vielleicht irgendwann, hoffentlich. Aber jetzt muss ich zurück nach Pittsburgh.»
Als Erstes würde er dort Gias Grab aufsuchen, auch wenn es ihm noch so schwerfallen sollte. Es führte kein Weg daran vorbei.
«Wenn es so notwendig für dich ist, werde ich deine Entscheidung mittragen. Aber bitte versuch, mich nicht zu vergessen.»
«Das werde ich nicht. Das könnte ich gar nicht.»
Sie verzichteten auf
Weitere Kostenlose Bücher