Das Schweigen der Toten
später beerdigt worden, als ich noch im Koma lag. Es waren einundzwanzig Tage vergangen. Meine Frau lag seit zwei Wochen unter der Erde. Mein Kind war gestorben, bevor es überhaupt zur Welt kam. Und mein Leben war vorbei.»
Anschließend hatte er als Gefangener in einem kalten, sterilen Krankenhaus weitere Torturen über sich ergehen lassen müssen.
«Der LKW -Fahrer war mit dem Schrecken davongekommen», sagte er. «Er hatte der Polizei gegenüber erklärt, ich sei viel zu schnell gefahren und habe die Kontrolle übers Auto verloren. Als ich wieder vernehmungsfähig war, wollte die Polizei Einzelheiten von mir wissen. Ich habe alles gesagt. Fast alles.»
In seiner Not und Verwirrung hatte er nicht erwähnt, dass er Bier getrunken hatte. Die Polizei aber wusste längst Bescheid. Der Restaurantbesitzer hatte ihr eine Kopie der Rechnung vorgelegt.
«Ich hatte damit gerechnet, eingesperrt zu werden», fuhr Henry fort. «Es wäre mir recht geschehen, und ich wollte es auch.»
Aber weil nicht mehr nachgewiesen werden konnte, dass er tatsächlich alle vier Flaschen Bier getrunken hatte, war es nicht zur Anklage gekommen.
Die Wunden verheilten schließlich, aber die Narben blieben.
In den fünf Jahren nach der Tragödie hatte Henry nie in Erwägung gezogen, sich einer kosmetischen Operation zu unterziehen. Er wollte die Narben so belassen, wie sie waren. Er brauchte sie. Sie sollten ihn, sooft er in den Spiegel blickte, daran erinnern, was er getan und was er verloren hatte.
Einunddreißig
Kat kehrte am nächsten Morgen mit Blumen und zwei von James gestalteten Grußkarten ins Krankenhaus zurück. Die Karte für Amber war voller Blüten in allen erdenklichen Farben. Auf der für Nick war ein Hündchen zu sehen. Beide Karten waren zusätzlich mit Glitzerglanz geschmückt.
Amber freute sich sichtlich über die Karte und die Blumen. Ihre Eltern, die zu beiden Seiten des Bettes standen, schienen weniger angetan. Sie bedachten Kat mit finsteren Blicken, als sie zur Tür hereinkam.
Kat hatte sich inzwischen daran gewöhnt. Seit dem Vortag begegnete sie solchen Mienen überall, auf der Straße und in den Geschäften. In
Awesome Blossoms
wurde sie so frostig empfangen, dass es sie nicht gewundert hätte, wenn sich am Schaufenster Eisblumen gebildet hätten.
Sie wusste, dass man ihr die Schuld gab, natürlich nicht an den Verbrechen, wohl aber daran, dass es ihr nicht gelungen war, die Stadt davor zu beschützen.
Immerhin schien Amber ihr keinerlei Vorwürfe zu machen. Ihre Verletzungen – das rechte Auge war geschwollen, der linke Arm gebrochen und zwei Rippen waren angeknackst – trug sie mit Fassung. Sie wusste, dass sie sich glücklich schätzen durfte, noch am Leben zu sein.
Nachdem sich Amber über den juckenden Gips und das schlechte Essen im Krankenhaus beklagt hatte, kam Kat auf das Eigentliche zu sprechen.
«Es wird dich wohl nicht überraschen, dass ich dir ein paar Fragen stellen muss», sagte sie. «Erinnerst du dich an irgendwelche Einzelheiten, die uns helfen könnten, den Täter zu identifizieren?»
«Sie meinen, ob ich ihn gesehen habe?»
«Auch wenn du ihn nicht gesehen hast, ist dir ja vielleicht irgendetwas an ihm aufgefallen.»
«Ich habe ihn tatsächlich nicht gesehen. Er kam von hinten. Das Licht war aus, und ich glaube, er trug schwarze Sachen. Aber es hätte auch jede andere Farbe sein können.»
«Hat er etwas gesagt oder irgendwelche Laute von sich gegeben?»
Amber schüttelte den Kopf. «Es ging alles so schnell. Und dann ist mir schwarz vor Augen geworden.»
Im Lieferwagenwrack war ein in Chloroform getränktes Taschentuch sichergestellt worden, außerdem eine Schubkarre, mit der der Täter wahrscheinlich die Särge transportiert hatte, sowie ein Faxgerät mit unkenntlich gemachter Registriernummer. Damit war zweifellos Ambers verfrühte Todesnachricht abgeschickt worden.
Was nicht gefunden werden konnte, war die Pistole, die Jasper Fox im Handschuhfach aufbewahrt hatte. Ergebnislos war auch die Suche nach Fingerabdrücken, Fasern oder Blutspuren geblieben, was Kat einigermaßen überraschte. Der Fahrer schien unverletzt davongekommen zu sein. In diesem Fall konnte Kat tatsächlich nur bedauern, dass die Airbags nicht versagt hatten.
Sie wollte Amber gerade fragen, ob sie während des Unfalls bei Besinnung gewesen sei, wurde aber von Gloria Ambrose davon abgehalten, die mit drei Kollegen der Landespolizei das Zimmer betrat. Sie bildeten in ihren Uniformen eine stumme Mauer
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