Das Schweigen der Toten
hinter ihrer Vorgesetzten.
«Ich platze nur ungern in Ihr Gespräch», sagte sie im forschen Ton einer Schulmeisterin. «Aber von jetzt an übernehmen wir.»
«Warum?», wollte Kat wissen.
Gloria Ambrose gab zu verstehen, dass Spezialisten der Landespolizei besser geeignet seien, traumatisierte Zeugen zu vernehmen. Aber Kat ließ sich nichts vormachen. Nach zwei bislang unaufgeklärten Morden und einem versuchten Mord nahm sich die übergeordnete Behörde der Sache an.
Kat versuchte gar nicht erst, Einspruch zu erheben. Revierkämpfe waren nicht ihr Stil. Außerdem hatte sie nichts dagegen, dass nun das Bureau of Criminal Investigation für alle weiteren Ermittlungen zuständig war. Ihr konnte es nur recht sein, wenn sie Meister Tod fassen und ihn ins Gefängnis stecken würden.
Sie umarmte Amber, ließ sich von den Eltern weitere wütende Blicke gefallen und fuhr in den dritten Stock hinauf, wo Nick gepflegt wurde.
Es ging dort sehr viel leiser zu. Und es war viel leerer. Der einzige Mensch, den sie sah, war ein stämmiger Mann, der sich vor der Schwesternstation aufhielt. Seine Kopfbehaarung war bis auf wenige Millimeter abrasiert, und am linken Oberarm prangte ein Rundum-Tattoo.
«Gehören Sie zur Familie?», fragte er, als Kat auf Nicks Zimmer zusteuerte.
Sie hatte schon die Hand an der Klinke. «Nein, ich bin eine Freundin.»
«Dann können Sie da nicht rein.»
«Warum nicht?»
«Intensivstation», antwortete der Mann. «Keine Besucher, ausgenommen Familienmitglieder.»
«Aber er hat keine Familie.»
Der Pfleger zuckte mit den Achseln. «Das ist nicht mein Problem.»
Kat trat einen Schritt auf ihn zu, in der Hoffnung, ihre Uniform und die Dienstmarke würden ihn einschüchtern. Was aber nicht der Fall war.
«Ihr Name?», fragte sie.
«Gary.»
«Na schön, Gary, ich hätte nur eine Bitte. Mein Sohn hat für Lieutenant Donnelly eine Grußkarte gemalt. Würden Sie bitte dafür sorgen, dass er sie bekommt?»
Der Pfleger musste an seinen Manieren definitiv noch arbeiten. Er nahm den Umschlag, zog die Karte daraus hervor und las die von James geschriebenen Worte.
«Ich versuch’s», sagte er, «kann aber nichts versprechen.»
Als Kat das Krankenhaus verließ, lief sie Martin Swan in die Arme. Er hatte wie immer Notizblock und Kuli bei sich und beides blitzschnell zur Hand.
«Nur ein paar Fragen, Chief», sagte er und kritzelte schon drauflos. Da sie noch nichts gesagt hatte, nahm Kat an, dass er irgendwelche Impressionen notierte, mit denen er seinen Artikel ausschmücken würde. Vermutlich würde er sie als verhärmt und erschöpft beschreiben. Vielleicht wollte er an die große Glocke hängen, dass ihr die Ermittlungen aus der Hand genommen worden waren, in ihrer eigenen Stadt.
«Worüber?»
«Haben Sie Amber Lefferts besucht?», fragte er.
«Ja.»
«Wie sieht sie aus?»
«So, als wäre sie fast gestorben.»
Martin schrieb fleißig und schien den Spott in ihrer Stimme nicht bemerkt zu haben.
«Wird die Halloween-Party nach den Ereignissen der vergangenen Nacht noch stattfinden?»
«Weiß ich nicht. Da müssen Sie den Bürgermeister fragen.»
«Habe ich schon. Er will, dass sie stattfindet.»
Kat wusste Bescheid. Sie hatte sich spät in der Nacht mit dem Bürgermeister und einigen Ratsmitgliedern getroffen, um darüber zu beratschlagen, ob an der Veranstaltung festgehalten werden sollte oder nicht. Die Stadt konnte auf die zu erwartenden Einkünfte nicht verzichten. Außerdem waren schon viele Besucher eingetroffen und die meisten Verkaufsbuden aufgestellt.
Die Vertreter der Stadt hatten Kat höflich zugehört, als sie zu bedenken gab, dass der Mörder noch auf freiem Fuß war. Aber wie immer setzten sich Geschäftsinteressen gegen Sicherheitsbedenken durch, und die Festlichkeiten würden wie geplant über die Bühne gehen.
«Machen Sie sich Sorgen um die Anwohner?», fragte Martin.
Ja, das tat sie. Sie, Carl und ein paar Mitarbeiter des Sheriffbüros waren als Ordnungskräfte eingeteilt, doch ihr Auftrag schien darauf hinauszulaufen, dass sie die Menge observierten und alle, die sich irgendwie verdächtig aufführten, kurzerhand festnahmen.
«Es gilt das Gesetz der großen Zahl. Die vielen Partygäste werden sich hoffentlich untereinander schützen», antwortete sie und wandte sich zum Gehen.
Vom Krankenhaus fuhr sie zum Oak-Knoll-Friedhof. Sie hatte mit dem Fall zwar nichts mehr zu tun, fand aber, dass es nicht schaden konnte, wenn sie auf eigene Faust ein wenig
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