Das Schweigen der Tukane
das? Unter dem Scheibenwischer steckte eine Karte. Mühsam schälte sich Ferrari aus dem Sitz und fischte sie sich. «Mörderin!» stand mit grossen roten Buchstaben drauf. Der Kommissär zerknüllte die Karte und steckte sie in die Jackentasche.
«Und, was wars?»
«Nichts.»
«Was nichts? Zeig mir den Wisch.»
Nadine riss ihm die Jacke aus der Hand und durchsuchte die Taschen. Entsetzt starrte sie auf die Karte. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
«Das war irgendein Vollidiot, der es nicht mal wert ist, sich aufzuregen, geschweige denn, sich Gedanken darüber zu machen. Komm, lass gut sein, Nadine.»
Auf der Fahrt sprach keiner ein Wort. Mörderin!, hallte es in Nadines Kopf wieder und wieder. Bei diesem Gedanken wurden Erinnerungen wach. Plötzlich waren die Bilder wieder da, damals in Bern, als ihr Kollege vor ihren Augen erschossen worden war. Es geschah am frühen Morgen bei einer Routinebefragung. Ein Beizer, der seine Frau geschlagen hatte, zückte eine Militärpistole, ein Schuss löste sich und traf den Polizisten genau ins Herz. Unwillkürlich zuckte Nadine zusammen.
«Was hast du?»
«Die Bilder … vor fünf Jahren in Bern … ich musste daran denken.» Tränen liefen über ihre Wangen. «Ich konnte es nicht verhindern. Diese Schuld trage ich mein ganzes Leben mit mir herum. Und jetzt bin ich hier in Basel als Mörderin abgestempelt. Vielleicht schnüffeln sie sogar in meiner Vergangenheit und stellen fest, dass ich schon einmal total versagt habe. Ich bin und bleibe eine Loserin.»
In Ferrari stieg eine unbändige Wut auf. Das wird ein Nachspiel haben, hundertprozentig. Ich werde herausfinden, wer für diese Sauerei die Verantwortung trägt. Auf Noldi kann ich nicht zählen, aber Borer, Big Georg und Peter Strub werden mir helfen. Und wenn ich dieses Schwein habe, dann schlage ich ihm alle Zähne raus. In leicht übersetztem Tempo fuhr er über das Dorenbachviadukt, via Holleestrasse zum Neuweilerplatz, beim Kreisel bog er in die Neubadstrasse und parkte kurz darauf vor dem Haus der Grauwilers.
«Soll ich allein mit Emma Grauwiler reden?»
«Es geht schon. Gib mir noch eine Minute.» Nadine wischte sich die Tränen weg, drehte den Rückspiegel zu sich und betrachtete sich im Spiegel. «Ich sehe Scheisse aus!» Sie klopfte sich auf die Wangen. «Gut, besser wirds nicht, wir können.»
Sie wurden von der Haushaltshilfe ins Wohnzimmer geführt. Emma Grauwiler sass am Tisch, vor ihr lagen verschiedene Dokumente.
«Setzen Sie sich, bitte. Ich bin ein wenig überfordert. Die Vorbereitungen für die Beerdigung, dann dieser ganze Papierkram, nichts als Formulare … Es wächst mir über den Kopf.»
«Und jetzt kommen auch noch wir, Emma.»
«Du störst mich … ich meine, Sie stören mich nicht, Nadine.»
«Wir können gern beim Du bleiben.»
«Wenn das alles vorbei ist, Nadine, wenn ich wieder meine Ruhe gefunden habe, dann würde es mich freuen, dich näher kennenzulernen.»
«Das machen wir.»
Emma Grauwiler sah Nadine aufmerksam an.
«Du wirkst müde … falsch, traurig.»
«Es … ich möchte nicht darüber reden, Emma.»
Emma Grauwiler sah Ferrari fragend an.
«Interne Spannungen und Meinungsverschiedenheiten. Das legt sich wieder.»
«Mit Jakob?»
«Für einmal nicht, mit anderen Kollegen … Wir wollen Sie nicht lange stören, Frau Grauwiler. Aber es gibt einige Unklarheiten und wir hoffen, dass Sie uns weiterhelfen können.»
«Im Zusammenhang mit dem Tod meines Mannes?»
«Dein Mann hat eine Bürgschaft übernommen.»
«Ich weiss. Für Hanspeter Sonderegger bei der BKB. Zwei Millionen. Ich war damit einverstanden.»
«Dann weisst du sicher auch, dass er zwei Wochen vor seinem Tod Robert Stolz senior aufsuchte und ihn bat, diese Bürgschaft zu übernehmen.»
«Das ist mir neu.»
«Kannst du dir vorstellen weshalb? Entschuldige die Frage, aber steckt ihr in finanziellen Schwierigkeiten?»
Emma Grauwiler spielte mit einem Kugelschreiber. Nadine seufzte leise. Genau wie Francesco! Wenn sie jetzt noch mit rhythmischem Klopfen anfängt, raste ich aus.
«Geldsorgen? Überhaupt keine. Das kann ich dir mit absoluter Sicherheit sagen. Fürs Finanzielle bin ich nämlich zuständig. Wir haben in den letzten Jahren sogar mehrere Liegenschaften in der Stadt gekauft. Diese Mehrfamilienhäuser sind eine gute Kapitalanlage. Peter kümmerte sich nie ums Geld, es interessierte ihn nicht wirklich.»
«Ihr seid also reich.»
«Reichtum ist relativ, wie so vieles. Im Vergleich
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