Das Schweigen des Glücks
nicht befürchten, etwas übersehen zu haben. Mit zehn Leuten war das ein Ding der Unmöglichkeit. Wenige Minuten nachdem sie sich aufgeteilt hatten, war jeder ganz auf sich gestellt und völlig abgetrennt von den anderen. Es blieb ihnen nichts übrig, als nach Gutdünken in eine Richtung zu streifen, ihre Stablampe mal hierhin, mal dorthin zu richten – irgendwohin: die sprichwörtliche Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Kyle zu finden war damit eine reine Glückssache geworden, keine Frage der Fähigkeiten.
Taylor redete sich gut zu, den Mut nicht sinken zu lassen, und kämpfte sich weiter vor, um Bäume herum und durch den immer schlammiger werdenden Boden. Obwohl er selbst keine Kinder hatte, war er Pate der Kinder seines besten Freundes Mitch Johnson und er verhielt sich so, als suchte er nach einem von ihnen. Mitch war auch bei der freiwilligen Feuerwehr, und Taylor wünschte sich inständig, er wäre an seiner Seite. Mitch, mit dem er seit zwanzig Jahren zur Jagd ging, kannte den Sumpf fast genauso gut wie er selbst und seine Erfahrung wäre ihnen nützlich. Aber Mitch war für ein paar Tage verreist. Taylor hoffte, es möge kein Omen sein.
Je weiter er sich von der Straße entfernte, desto dichter und dunkler wurde der Sumpf, fremder und undurchdringlicher mit jedem Schritt. Die lebendigen Bäume standen eng beieinander, umgestürzte Bäume lagen kreuz und quer auf dem Boden und vermoderten. Ranken und Äste zerrten an ihm, während er sich vorwärts bewegte, und er strich sie sich immer wieder mit der freien Hand aus dem Gesicht. Er richtete seine Stablampe auf jede Baumgruppe, auf jeden Baumstumpf, hinter jedes Gebüsch, dabei bewegte er sich unaufhaltsam weiter, suchte nach einem Zeichen, dem kleinsten, von Kyle. Die Minuten verstrichen. Zehn Minuten waren vergangen.
Dann zwanzig.
Dann dreißig.
Er war tiefer in den Sumpf vorgedrungen, das Wasser stand ihm bis zu den Knöcheln und machte das Vorankommen schwerer. Taylor sah auf seine Uhr. 22.56 Uhr. Kyle war seit anderthalb Stunden verschwunden, vielleicht länger. Die Zeit, die anfangs noch auf ihrer Seite gewesen war, wurde langsam zum Feind.
Wie lange würde es dauern, bevor er zu sehr auskühlte? Oder…
Er schüttelte den Kopf; weiter wollte er nicht denken. Es blitzte und donnerte ohne Unterlass, der Regen war hart wie Nadelstiche und schien aus allen Richtungen zu kommen. Taylor wischte sich alle paar Sekunden über das Gesicht, um klarer sehen zu können. Obwohl die Mutter darauf beharrt hatte, dass Kyle nicht antworten würde, rief Taylor ständig seinen Namen. Irgendwie hatte er so das Gefühl, er würde mehr tun, als tatsächlich der Fall war.
Verdammt.
So ein Unwetter hatte es seit – mal sehen, seit sechs Jahren? Vielleicht sieben? – nicht mehr gegeben. Warum heute? Warum jetzt, da ein Junge verschwunden war? An einem Abend wie diesem konnten sie nicht einmal Jimmie Hicks Hunde benutzen, und das waren die besten im Lande. Das Unwetter machte es unmöglich, irgendwelchen Spuren zu folgen. Und einfach blind hier draußen herumzuwandern kam ihm auch nicht sehr Erfolg versprechend vor.
Wohin würde ein Kind gehen? Ein Kind, das Angst vor Gewitter, aber nicht vor dem Wald hatte? Ein Kind, das seine Mutter nach dem Unfall gesehen hatte, verletzt und bewusstlos?
Denk nach!
Taylor kannte den Sumpf so gut, wenn nicht besser, als jeder andere. Hier, in diesem Sumpf, hatte er sein erstes Reh geschossen, mit zwölf Jahren; jeden Herbst zog er aus, um auf Entenjagd zu gehen. Er hatte einen ausgeprägten Spürsinn, selten kam er ohne Beute von der Jagd. Die Menschen in Edenton scherzten oft, dass er eine Nase wie ein Wolf habe. Er hatte tatsächlich ein ungewöhnliches Talent, das gab er selbst zu. Sicher, er richtete sich nach denselben Dingen wie andere Jäger auch – Spuren, Losungen, zerbrochene Zweige, die auf eine Spur hinwiesen, der ein Reh gefolgt sein konnte –, aber derlei Dinge erklärten seinen Erfolg nur unzureichend. Wenn er gefragt wurde, ob er seine geheime Fähigkeit erklären könne, sagte er, er versuche, wie ein Reh zu denken. Darauf lachten die Leute, aber Taylor sagte es immer mit einem ernsten Gesicht, das ihnen zeigte, dass er keinen Scherz machte.
Wie ein Reh denken? Was sollte das heißen?
Sie schüttelten den Kopf. Vielleicht wusste nur Taylor das.
Und jetzt versuchte er das Gleiche zu tun, nur dass es um viel mehr ging.
Er schloss die Augen. Wohin würde ein Vierjähriger gehen? Welche Richtung würde er
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