Das Schweigen des Glücks
der Nähe, und je eher sie anfingen, desto größer war ihre Chance, ihn zu finden.
»Aber«, fuhr Taylor fort, »von der Mutter wissen wir, dass der Junge wahrscheinlich nicht antwortet, wenn wir ihn rufen. Macht also eure Augen auf – nicht, dass ihr versehentlich an ihm vorbeigeht. Sie hat sehr deutlich gesagt, wir sollen nicht darauf rechnen, dass er antwortet.«
»Wie, er antwortet nicht?« fragte einer der Männer, offensichtlich verdutzt.
»Das hat die Mutter gesagt.«
»Warum kann er nicht sprechen?«
» Das hat sie nicht richtig erklärt.«
»Ist er behindert?« fragte ein anderer.
Taylor spürte, wie sich seine Rückenmuskeln bei der Frage verkrampften.
»Was tut das zur Sache? Er ist ein kleiner Junge, der im Sumpf verschwunden ist und nicht sprechen kann. Mehr brauchen wir im Moment nicht zu wissen.«
Taylor starrte den Mann an, bis der den Blick abwandte. Dann hörte man nur das Rauschen des Regens, bis Sergeant Huddle einen tiefen Seufzer ausstieß.
»Wir sollten anfangen.«
Taylor knipste seine Stablampe an. »Also los.«
Kapitel 5
D enise konnte sich mit den anderen im Sumpf sehen, wie die Äste ihr ins Gesicht schlugen und ihre Füße im matschigen Boden versanken, während die panische Suche nach Kyle weiterging. In Wirklichkeit aber lag sie auf einer Trage in einem Krankenwagen und war auf dem Weg ins Krankenhaus in Elizabeth City – einer Stadt dreißig Meilen nordöstlich –, wo es die nächste Notaufnahme gab.
Denise starrte an die Decke des Krankenwagens, immer noch zitternd und benommen. Sie hatte dableiben wollen, sie hatte gebettelt, dableiben zu dürfen, aber man hatte ihr gesagt, es sei besser für Kyle, wenn sie sich ins Krankenhaus bringen ließe. Sie würde die Suche nur behindern, hatte man ihr gesagt. Sie hatte erwidert, das sei ihr gleichgültig, und war, uneinsichtig wie sie war, aus dem Krankenwagen gestiegen, in das Unwetter hinein, weil sie wusste, dass Kyle sie brauchte. Als hätte sie sich völlig unter Kontrolle, bat sie um einen Regenmantel und eine Stablampe. Nach ein paar Schritten begann sich alles in ihrem Kopf zu drehen. Sie war eingeknickt – die Beine waren ihr weggerutscht – und hingefallen. Zwei Minuten später heulten die Sirenen des Krankenwagens auf und sie war auf dem Weg ins Hospital.
Sie zitterte, rührte sich aber sonst nicht auf der Trage. Ihre Hände und Arme lagen vollkommen still, fast unheimlich. Ihr Atem ging hastig und flach, wie bei einem kleinen Tier. Ihre Haut war ungesund blass und bei dem letzten Sturz war die Kopfwunde wieder aufgeplatzt.
»Haben Sie Vertrauen, Miss Holton«, beschwichtigte sie der Sanitäter. Er hatte ihren Blutdruck gemessen und vermutete, dass sie unter Schock stand. »Ich meine, ich kenne diese Männer. Hier sind schon öfter Kinder verschwunden und die finden sie immer.«
Denise reagierte nicht.
»Und Ihnen geht es auch bald wieder besser«, fuhr der Sanitäter fort. »Ein, zwei Tage, und Sie sind wieder auf den Beinen.«
Einen Moment lang war es still. Denise starrte weiter an die Decke. Der Sanitäter maß ihren Puls.
»Wollen Sie, dass ich jemanden für Sie anrufe, wenn wir im Krankenhaus sind?«
»Nein«, flüsterte. »Ich habe niemanden.«
Die Männer kamen zu der Stelle, wo Taylor die Decke gefunden hatte, und schwärmten aus. Taylor bewegte sich mit zwei Männern in südlicher Richtung, tiefer in das Sumpfland hinein, während sich die anderen in Richtung Osten und Westen auf den Weg machten. Das Unwetter tobte immer noch mit unverminderter Heftigkeit und die Sicht betrug – auch mit den Stablampen – höchstens ein paar Meter. Schon nach wenigen Minuten konnte Taylor die anderen nicht mehr sehen und hören, was ihm ein mulmiges Gefühl im Magen verursachte. In dem Adrenalinrausch vor der Suche – als alles möglich schien – war die Realität der Situation irgendwie nebensächlich gewesen.
Taylor hatte schon früher nach verschwundenen Personen gesucht und wusste, dass sie nicht genügend Leute hatten. Das Sumpfland bei Nacht, das Unwetter, ein Kind, das nicht auf Rufe reagieren würde… fünfzig Leute wären wahrscheinlich noch nicht genug. Vielleicht nicht einmal hundert. Wenn man nach jemandem in einem Wald suchte, war es am effektivsten, wenn die Suchenden in einer Linie gingen und sich im gleichen Tempo bewegten, so ähnlich wie bei einer Marschkapelle. Indem man nah beieinander blieb, konnte man ein Gebiet gründlich und schnell in einem Rasterverfahren durchsuchen und musste
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