Das Schweigen des Glücks
Schlimmsten, aber stattdessen erfuhr sie von dem kleinen Jungen – »dem Enkelsohn von J. B. Anderson« –, der im Sumpf verschwunden war. Taylor, so sagte man ihr, sei bei dem Suchtrupp. Die Mutter jedoch sei auf dem Weg ins Krankenhaus in Elizabeth City.
Nachdem Judy aufgelegt hatte, setzte sie sich erleichtert in ihren Sessel – zum Glück war mit Taylor alles in Ordnung. Doch plötzlich machte sie sich Sorgen um das Kind.
Wie alle Menschen in Edenton hatte sie die Andersons gekannt. Aber darüber hinaus hatte Judy auch die Mutter von Denise gekannt, als sie beide junge Mädchen gewesen waren und bevor Denises Mutter weggezogen war und Charles Holton geheiratet hatte. Das war vor langer Zeit gewesen – sicherlich war es vierzig Jahre her – und sie hatte jahrelang nicht mehr an sie gedacht, aber jetzt kamen die Erinnerungen an ihre Jugend in ihr hoch wie eine Bildcollage: der gemeinsame Schulweg; träge Tage am Fluss, wo sie über Jungen gesprochen hatten; Nachmittage, an denen sie die neuesten Modebilder aus Zeitschriften ausgeschnitten hatten… Sie dachte auch daran, wie traurig sie gewesen war, als sie von ihrem Tod erfahren hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass die Tochter ihrer Freundin nach Edenton zurückgekommen war.
Und jetzt war deren Sohn verschwunden.
Was für eine Heimkehr!
Judy überlegte nicht lange – Unentschlossenheit lag einfach nicht in ihrem Wesen. Sie war schon immer der Typ gewesen, der die Dinge in die Hand nahm, und mit dreiundsechzig hatte sie sich in dem Punkt kein bisschen verändert. Vor Jahren, nach dem Tod ihres Mannes, hatte Judy eine Stelle in der Bücherei angenommen, Taylor allein großgezogen und gelobt, es zu schaffen. Nicht nur sorgte sie in finanzieller Hinsicht für sich und ihren Sohn, sondern sie bewerkstelligte auch, was sich sonst ein Elternpaar teilte. Sie meldete sich freiwillig bei seiner Schule und fuhr als Betreuerin bei Klassenfahrten mit, und sie war mit Taylor zu Sportveranstaltungen gegangen und hatte beim Zeltlager der Pfadfinder teilgenommen. Sie hatte ihm beigebracht, wie man kocht und sauber macht, sie hatte ihm beigebracht, wie man Körbe wirft und einen Baseball schlägt. Diese Zeiten lagen jetzt hinter ihr, dennoch war sie so beschäftigt wie nie zuvor. In den letzten zwölf Jahren war es nicht mehr Taylors Erziehung, die sie voll in Anspruch nahm, sondern die Stadt Edenton selbst, und sie engagierte sich für jeden Aspekt des Gemeindelebens. Sie schrieb regelmäßig an den Kongressabgeordneten und die Mitglieder des Repräsentantenhauses und ging von Tür zu Tür, um Unterschriften für verschiedene Petitionen zu sammeln, wenn sie fand, dass ihre Stimme nicht gehört wurde. Sie war Mitglied der Edenton Historical Society, die Gelder für die Erhaltung der alten Häuser in der Stadt sammelte; sie nahm an allen Sitzungen des Stadtrats teil und hatte zu jeder Frage eine Meinung. Sie unterrichtete in der Sonntagsschule der Episcopal Church, sie backte für jeden Kuchenverkauf und trotzdem arbeitete sie dreißig Stunden in der Woche in der Bibliothek. Ihr Zeitplan erlaubte ihr nicht, viel Zeit zu verschwenden, und wenn sie eine Entscheidung getroffen hatte, dann führte sie sie aus, ohne zurückzublicken. Besonders wenn sie überzeugt war, Recht zu haben.
Obwohl sie Denise nicht kannte, war sie doch selbst Mutter und verstand, was es hieß, Angst zu haben, wenn es um Kinder ging. Taylor war sein Leben lang immer wieder in heikle Situationen geraten – fast schien es, dass er sie anzog, sogar als er klein war. Judy wusste, dass der kleine Junge furchtbare Angst haben würde – und die Mutter – nun, die war wahrscheinlich im Begriff, den Verstand zu verlieren vor Angst.
So ginge es mir, weiß der Himmel.
Entschlossen zog sie sich den Regenmantel an; sie war sich absolut sicher, dass die Mutter alle Unterstützung brauchte, die sie bekommen konnte.
Die Aussicht, durch das Gewitter zu fahren, ängstigte sie nicht; der Gedanke daran kam ihr gar nicht. Eine Mutter und ihr Sohn waren in Nöten.
Vielleicht wollte Denise Holton sie nicht sehen, vielleicht
konnte
sie sie auch nicht sehen, aufgrund ihrer Verletzungen, doch Judy würde nicht schlafen können – soviel war ihr klar –, wenn sie Denise nicht zeigte, dass es Menschen in der Stadt gab, die Mitgefühl mit ihr hatten.
Kapitel 6
U m Mitternacht stieg wieder ein Leuchtfeuer in den Abendhimmel und zeigte, wie das Schlagen einer Uhr, die Zeit an.
Kyle war seit drei Stunden
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