Das Schweigen des Glücks
sagte sie. Sie flüsterte ihm ins Ohr und hatte die Augen fest geschlossen. »Geht's dir gut?«
Kyle antwortete nicht, aber diesmal machte es Denise nichts aus.
Denise begleitete Kyle, der in den Behandlungsraum gefahren wurde. Judy hielt sich derweilen im Hintergrund und sah ihnen nach. Sie wollte sich nicht dazwischendrängen. Als die beiden verschwanden, wurde ihr bewusst, wie müde sie war. Seit Jahren war sie nicht mehr so lange auf gewesen. Aber es hatte sich gelohnt – nichts war besser als ein Auf und Ab der Gefühle, um die alte Pumpe in Schwung zu bringen. Ein paar mehr Nächte wie diese und sie wäre fit für einen Marathonlauf.
Während sie aus der Notaufnahme trat, fuhr der Krankenwagen gerade wieder weg und sie suchte in ihrer Handtasche nach ihrem Autoschlüssel. Als sie aufsah, entdeckte sie Taylor, der mit Sergeant Huddle am Polizeiwagen stand. Sie atmete erleichtert auf. Taylor sah sie im gleichen Augenblick und hatte einen Moment lang das Gefühl, seine Augen würden ihn trügen. Er sah sie fragend an, während er auf sie zukam.
»Mom – was machst du denn hier?«, fragte er verdutzt.
»Ich habe den Abend bei Denise Holton verbracht – du weißt schon, das ist die Mutter des Jungen. Ich dachte, sie könnte vielleicht Beistand gebrauchen.«
»Und da bist du hergekommen? Obwohl du sie gar nicht kanntest?«
Sie umarmten sich. »Natürlich.«
Taylor war stolz auf seine Mutter. Seine Mutter war eine prächtige Frau. Judy löste sich aus der Umarmung und sah ihn von oben bis unten an.
»Du siehst schrecklich aus, mein Sohn.«
Taylor lachte. »Danke für das Kompliment. Aber ehrlich gesagt fühle ich mich recht gut.«
»Das kann ich mir vorstellen. Und so sollte es auch sein. Du hast heute Abend etwas Wunderbares geleistet.«
Er lächelte kurz und wurde dann wieder ernst. »Und wie ging es ihr?«, fragte er. »Bevor wir ihn gefunden haben, meine ich.«
Judy zuckte die Schultern. »Verstört, verwirrt, voller Panik und Entsetzen… such dir das Passende aus. Sie hat so ziemlich alles durchlebt heute Abend.«
Er sah sie mit einem Lächeln an. »Ich habe gehört, du hast Joe die Meinung gesagt… «
»Und ich würde es wieder tun. Was habt ihr euch nur gedacht?«
Taylor hob die Hände wie zur Verteidigung.
»He – gib mir nicht die Schuld. Ich bin nicht der Chef und außerdem war er genauso besorgt wie wir. Glaub mir.«
Sie hob die Hand und schob Taylor eine Haarsträhne aus den Augen. »Ich wette, du bist ziemlich fertig.«
»Einigermaßen. Aber nichts, was ein paar Stunden Schlaf nicht regeln könnten. Darf ich dich zu deinem Auto bringen?«
Judy hängte sich bei Taylor ein, gemeinsam gingen sie zum Parkplatz. Nach ein paar Schritten sah sie ihn an.
»Du bist so ein netter junger Mann. Wieso bist du eigentlich noch nicht verheiratet?«
»Ich hab Angst vor der Verwandtschaft.«
»Wie?«
»Nicht meiner Verwandtschaft, Mom. Vor der meiner Frau.«
Judy entzog ihm mit gespielter Entrüstung den Arm. »Ich nehme zurück, was ich eben gesagt habe.«
Taylor lachte leise und nahm ihren Arm wieder. »Ich mache nur Witze, Mom. Du weißt, dass ich dich lieb habe.«
»Das möchte ich dir auch geraten haben.«
Als sie zu ihrem Auto kamen, nahm Taylor die Schlüssel und schloss ihr auf. Nachdem Judy sich hinter das Steuerrad gesetzt hatte, beugte er sich herunter und sah sie durch das offene Fenster an. »Bist du auch nicht zu müde zum Fahren? «, fragte er.
»Nein, mach dir keine Sorgen. Es ist ja nicht weit. Wo ist denn dein Auto?«
»An der Unfallstelle. Ich bin mit Kyle im Krankenwagen gekommen. Carl bringt mich zu meinem Auto.«
Judy nickte und drehte den Schlüssel, der Motor sprang sofort an.
»Ich bin stolz auf dich, Taylor.«
»Danke, Mom. Und ich bin stolz auf dich.«
Kapitel 9
B ei Tagesanbruch war der Himmel bewölkt und es regnete sporadisch, doch der größte Teil des Unwetters war aufs Meer hinausgezogen. Die Zeitungen berichteten ausführlich über die Ereignisse des vorherigen Abends, wobei die größte Aufmerksamkeit einem Tornado in der Nähe von Maysville galt, der Teile eines Wohnwagenparks zerstört, vier Menschen getötet und weitere sieben verletzt hatte. Die erfolgreiche Suche nach Kyle Holton wurde überhaupt nicht erwähnt – die Tatsache, dass er verschwunden war, erfuhren die Reporter erst am folgenden Tag, Stunden nachdem er gefunden worden war. Der erfolgreiche Abschluss hatte es in ihren Augen zu einem uninteressanten Ereignis gemacht, besonders im
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