Das Schweigen des Glücks
passiert war, war ein riesiger Zufall. Das Gewitter, das Reh, der Sicherheitsgurt, der nur über ihren Schoß geschnallt war und nicht über ihre Schulter (sie hatte das noch nie gemacht und würde es nie wieder tun, das war schon mal klar), Kyle, der davonlief, während Denise bewusstlos war und ihn nicht daran hindern konnte… Alles.
Einschließlich der McAdens.
Die eine hier zu ihrer Unterstützung, der andere findet ihr Auto. Die eine kannte ihre Mutter von früher, der andere findet Kyle.
Zufall? Schicksal?
Etwas anderes?
Später am Nachmittag schrieb Denise mit Hilfe einer Schwester und des Telefonbuches Dankesbriefe an Carl und Judy und einen allgemeinen Brief (an die Feuerwache adressiert) und bedankte sich bei allen, die an der Suche beteiligt waren.
Als Letztes schrieb sie einen Brief an Taylor McAden, und während sie schrieb, kreisten ihre Gedanken um ihn.
Kapitel 10
D rei Tage waren seit dem Unfall und der erfolgreichen Suche nach Kyle Holton vergangen, als Taylor McAden durch den Kalksteinbogen trat, der den Eingang zum Cypress Park Cemetery, dem ältesten Friedhof in Edenton, bildete, und zum Grab ging. Er kannte den Weg genau, ging quer über die Wiese und um einige Grabsteine herum. Manche waren so alt, dass Wind und Wetter im Laufe von zwei Jahrhunderten die Schrift darauf ganz ausgelöscht hatten, und er erinnerte sich daran, wie er versucht hatte, die Buchstaben zu entziffern. Es war, wie er feststellen musste, unmöglich.
Diesmal jedoch schenkte er ihnen kaum Beachtung und schritt unter dem bewölkten Himmel rasch aus. Erst als er den Schatten einer großen Trauerweide erreichte, blieb er stehen. Hier, auf der Westseite des Friedhofs, ragte der Grabstein, den er aufsuchen wollte, knapp vierzig Zentimeter aus dem Gras. Es war ein unscheinbarer Granitblock mit einer Inschrift auf der Oberseite.
Um den Stein herum war das Gras hoch gewachsen, aber sonst war das Grab gepflegt. Unmittelbar davor steckte eine metallene Friedhofsvase im Boden, in der ein Strauß vertrockneter Nelken stand. Er musste weder nachzählen, um zu wissen, wie viele es waren, noch brauchte er sich zu fragen, wer sie hergebracht hatte.
Seine Mutter brachte elf Blumen, eine für jedes Jahr ihrer Ehe. Sie brachte sie immer im Mai, an ihrem Hochzeitstag, und das seit siebenundzwanzig Jahren. In all den Jahren hatte sie Taylor nie gesagt, dass sie die Blumen auf das Grab stellte, und Taylor hatte ihr nie gesagt, dass er davon wusste. Er war bereit, ihr dieses Geheimnis zu lassen, wenn er so zugleich sein Geheimnis bewahren konnte.
Er ging nicht wie seine Mutter an ihrem Hochzeitstag zum Grab. Das war ihr Tag, der Tag, an dem sie und sein Vater sich vor der Familie und den Freunden gelobt hatten, sich zu lieben. Taylor ging im Juni zum Grab, an dem Tag, an dem sein Vater gestorben war. Das war der Tag, den er nie vergessen würde.
Wie immer trug er Jeans und ein kurzärmliges Arbeitshemd. Er war direkt von einer seiner Baustellen gekommen, hatte sich in der Mittagspause davongestohlen, und sein schweißnasses Hemd klebte ihm an Brust und Rücken. Niemand hatte gefragt, wohin er ging, und er hatte nichts erklärt. Außer ihm ging es keinen etwas an.
Taylor bückte sich und fing an, die langen Grashalme um den Stein abzureißen. Er drehte sie um die Hand, um besser ziehen zu können, und kürzte sie auf die Länge der Wiese drum herum. Er ließ sich Zeit, und während er alle vier Seiten des Grabsteins bearbeitete, ordneten sich langsam seine Gedanken. Als er fertig war, strich er mit dem Finger über den glatten Granit. Die Worte waren schlicht:
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Mason Thomas McAden
Liebevoller Vater und Ehemann 1936-1972
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Jahr um Jahr, Besuch für Besuch war Taylor älter geworden. Jetzt war er so alt wie sein Vater damals, als er starb. Aus dem verängstigten Jungen war der Mann von heute geworden. Seine Erinnerung an den Vater endete jedoch abrupt an jenem letzten, schrecklichen Tag. Sosehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht vorstellen, wie sein Vater aussehen würde, wenn er noch lebte. In Taylors Vorstellung würde sein Vater immer sechsunddreißig sein. Nie jünger, nie älter – so wollte es das selektive Gedächtnis. Und natürlich auch das Foto.
Taylor schloss die Augen und wartete, bis sich das Bild einstellte. Er brauchte das Foto nicht bei sich zu tragen, um genau zu wissen, wie es aussah. Es stand immer noch auf dem Kaminsims im Wohnzimmer. Er hatte es in den letzten siebenundzwanzig Jahren jeden Tag
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