Das Schweigen des Glücks
ob er auf eine normale Schule gehen wird, ob er irgendwann mal mit jemandem Freundschaft schließen wird, ob die Menschen ihn akzeptieren werden… ob ich immer weiter mit ihm arbeiten muss. Das sind die Fragen, die mir nachts den Schlaf rauben.«
Nach einer Pause sprach sie langsamer weiter und in jeder Silbe schwang der Schmerz mit.
»Du darfst nicht glauben, ich bedauerte es, dass Kyle da ist. Ich liebe ihn von ganzem Herzen und ich werde ihn immer lieben. Aber… «
Sie starrte auf die sich drehenden Schaukeln, ohne sie zu sehen.
«Ich hatte es mir nicht so vorgestellt, Kinder zu haben.«
»Das war mir nicht klar«, sagte Taylor sanft.
Sie antwortete nicht und schien in Gedanken. Dann seufzte sie und wandte sich zu ihm um.
»Entschuldigung. Ich hätte das alles nicht erzählen sollen.«
»Warum nicht? Ich bin froh, dass du darüber gesprochen hast.«
Als hätte sie den Eindruck, ihm zu viel anvertraut zu haben, lächelte sie entschuldigend. »Wahrscheinlich hat es alles ziemlich hoffnungslos geklungen, oder?«
»Nein, eigentlich nicht«, log er. In dem schwächer werdenden Sonnenlicht war sie von einem besonderen Strahlen umgeben. Sie berührte sanft seinen Arm. Ihre Hand war weich und warm.
»Im Flunkern bist du nicht besonders gut, du solltest bei der Wahrheit bleiben. Ich weiß, dass es schrecklich klang, aber das ist nur die dunkle Seite in meinem Leben. Ich habe dir nicht von den guten Seiten erzählt.«
Taylor zog die Augenbrauen ein wenig hoch.
»Es gibt auch gute Seiten?«, fragte er, was ein verlegenes Lachen von Denise hervorrief.
»Wenn ich das nächste Mal anfange, dir mein Herz auszuschütten, sag mir rechtzeitig, wann ich aufhören soll, ja?«
Sie bemühte sich um einen leichten Tonfall, aber aus ihrer Stimme klang Angst. Taylor vermutete, dass er der Erste war, den sie auf diese Weise ins Vertrauen zog, und dass Scherze fehl am Platze waren.
Das Karussell wurde plötzlich langsamer und nach drei weiteren Umdrehungen stand es ganz still. Kyles Gesicht drückte seine ganze Aufregung aus.
»Ssaukel!« rief er und sang das Wort fast, während er vor Erregung mit den Beinen strampelte.
»Möchtest du noch einmal mit der Schaukel fahren?«, fragte Denise.
»Ja«, sagte er und nickte.
Da nicht viele Leute anstanden, nickte der Mann ihnen zu: Kyle konnte sitzen bleiben. Taylor gab ihm eine Karte und gesellte sich wieder zu Denise.
Als das Karussell sich wieder zu drehen anfing, sah Taylor, wie Denise Kyle betrachtete.
»Ich glaube, ihm gefällt das«, sagte sie fast stolz.
»Ich glaube, du hast Recht.«
Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf das Geländer. Sein Scherz von vorher tat ihm Leid.
»Erzähl mir doch von den guten Seiten«, sagte er leise.
Kyle kam zweimal vorbei und sie winkte ihm zu, bevor sie wieder anfing zu sprechen.
»Möchtest du es wirklich hören?«
»Ja, wirklich.«
Denise zögerte. Was tat sie hier? Sie erzählte einem Mann, den sie kaum kannte, von ihrem Sohn und vertraute ihm Dinge an, die sie bisher noch nie in Worte gefasst hatte – sie fühlte sich wie auf unsicherem Boden, als wäre sie ein Felsbrocken, der über den Abgrund ragte. Und doch wollte sie zu Ende erzählen, was sie begonnen hatte.
Sie räusperte sich.
»Also gut, die guten Seiten… «
Sie warf Taylor einen kurzen Blick zu und sah dann wieder weg. »Kyle lernt hinzu. Manchmal kommt es einem vielleicht nicht so vor und andere merken es gar nicht, aber es ist so, er lernt langsam, aber stetig. Letztes Jahr kannte er nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Wörter. Dieses Jahr sind es schon über hundert und manchmal reiht er drei oder vier Wörter aneinander und spricht einen einfachen Satz. Er kann die meisten seiner Wünsche ausdrücken. Er sagt mir, wenn er Hunger hat, wenn er müde ist, was er essen möchte – all das ist für ihn neu. Er macht das erst seit ein paar Monaten.«
Sie atmete tief durch und spürte, wie ihre Gefühle wieder hochkamen.
»Du musst das verstehen… Kyle arbeitet richtig hart, jeden Tag. Wenn andere Kinder draußen spielen, muss er auf seinem Stuhl sitzen und ein Bilderbuch ansehen und die Wörter herausfinden. Er braucht Stunden, um Sachen zu lernen, die andere Kinder in Minuten lernen.«
Sie unterbrach sich und sah ihn fast trotzig an.
»Aber er macht immer weiter… er versucht es immer wieder, Tag für Tag, Wort für Wort, Begriff für Begriff. Und er beschwert sich nicht, er jammert nicht, er macht es einfach. Wenn du wüsstest, wie sehr
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