Das Schweigen des Glücks
abgezweigt – und nahm ihr Portemonnaie heraus. Taylor sah es und stoppte sie, indem er die Hand hob.
»Das übernehme ich. Ich habe eingeladen, stimmt's?«
»Aber Kyle… «
»Ihn habe ich auch eingeladen.«
Nachdem Taylor die Karte gekauft hatte, warteten sie in der Schlange. Das Karussell hielt an, die Kinder stiegen aus und Taylor reichte die Karte einem Mann, der auf direktem Wege aus einem Maschinenraum gekommen zu sein schien. Seine Hände waren ölverschrmiert, seine Arme voller Tätowierungen und in seinem Mund fehlte ein Schneidezahn. Er riss die Karte ab und warf den Abschnitt in eine Holzkiste.
»Ist das Kettenkarussell auch sicher?«, fragte Denise.
»Inspektion war gestern erst«, antwortete er automatisch. Zweifellos sagte er das zu allen besorgten Eltern, was Denise aber nicht im Mindesten beruhigte. Zum Teil sahen die Schaukeln aus, als würden sie mit Heftklammern zusammengehalten.
Beklommen führte sie Kyle zu einem Sitz. Sie hob ihn hinein und legte den Sicherheitsriegel vor. Taylor stand draußen und sah zu.
»Ei Ssaukel«, sagte Kyle wieder, als es losging.
»Ja, eine Schaukel.«
Sie legte seine Hände auf den Sicherheitsriegel. »Halt schön fest. Nicht loslassen.«
Kyles Antwort war ein erfreutes Lachen.
»Halt fest«, sagte sie, diesmal ganz ernst, und er umfasste den Riegel.
Sie ging zu Taylor und stellte sich neben ihn. Sie konnte nur hoffen, dass Kyle auf sie hörte. Dann begann sich das Karussell zu drehen und wurde schneller. Bei der zweiten Umdrehung schwangen die Schaukeln schräg nach außen. Denise hatte ihre Augen fest auf Kyle geheftet, und als er vorbeigeflogen kam, konnte man unmöglich sein Lachen, ein hohes Freudenkreischen, überhören. Bei der nächsten Umdrehung sah sie, dass seine Hände den Riegel noch umfasst hielten, und sie atmete erleichtert auf.
»Du bist anscheinend überrascht«, sagte Taylor und beugte sich zu ihr, damit sie ihn trotz des Lärmpegels hören konnte.
»Das stimmt«, sagte sie. »Es ist das erste Mal, dass er auf so einem Karussell sitzt.«
»War er noch nie auf einer Kirmes?«
»Ich fand, dass er noch zu klein war.«
»Weil er nicht gut sprechen kann?«
»Das auch.«
Sie sah ihn an und zögerte unter seinem ernsten Blick. Plötzlich wollte sie mehr als alles andere, dass Taylor Kyle verstand, dass er verstand, wie die letzten vier Jahre für sie gewesen waren. Und, mehr noch, dass er
sie
verstand.
»Ich meine«, fing sie leise an, »stell dir eine Welt vor, in der nichts erklärt wird, in der alles durch Ausprobieren gelernt werden muss. Für mich sieht Kyles Welt so aus. Manche Leute denken, Sprache ist dazu da, dass man sich unterhalten kann, aber für Kinder ist sie viel mehr als das. Sie brauchen sie, um die Welt zu begreifen. So lernen sie, dass die Herdplatte heiß ist, ohne sie anzufassen. Und sie lernen, dass es gefährlich ist, die Straße zu überqueren, ohne erst von einem Auto angefahren zu werden. Wenn Kyle Sprache nicht versteht, wie kann ich ihm diese Dinge dann beibringen? Wenn er nicht versteht, was eine Gefahr ist, wie kann ich dann dafür sorgen, dass er nicht in Gefahr gerät? Als er an dem Abend nach dem Unfall in das Sumpfland gelaufen ist… du hast selbst gesagt, dass er anscheinend keine Angst hatte, als du ihn gefunden hast.«
Sie sah Taylor ernst an. »Also, es ist völlig klar – mir wenigstens. Ich bin mit ihm nie im Sumpfland gewesen; ich habe ihm nie Schlangen gezeigt; ich habe ihm nicht beigebracht, was er machen muss, wenn er sich verläuft und den Weg nicht mehr weiß. Und weil ich es ihm nicht gezeigt habe, wusste er nicht genug, um Angst zu haben. Und wenn man das jetzt einen Schritt weiter fortführt und an all die möglichen Gefahren denkt und daran, dass ich ihm alles zeigen muss, statt es ihm zu erklären – manchmal habe ich das Gefühl, das alles gleicht dem Versuch, das Meer zu durchschwimmen. Ich kann dir gar nicht sagen, wie viele gefährliche Situationen es schon gegeben hat. Wenn er zu hoch geklettert ist und springen wollte, wenn er mit dem Fahrrad zu weit auf die Fahrbahn fährt, wenn er auf und davon spaziert, wenn er auf knurrende Hunde zugeht… mir kommt es vor, als gäbe es jeden Tag etwas Neues.«
Sie schloss einen Moment lang die Augen, als durchlebte sie die Situationen alle noch einmal, dann sprach sie weiter.
»Aber glaub mir, das sind nur ein paar meiner Ängste. Die meiste Zeit über mache ich mir über ganz andere Dinge Sorgen: Ob er jemals richtig sprechen wird,
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