Das Schweigen des Glücks
noch mehr Geschichten über Edenton?«
»Noch ein paar.«
»Auch Gespenstergeschichten?«
»Natürlich. In jeder Stadt in North Carolina gibt es Gespenstergeschichten. An Halloween hat mein Vater meine Freunde und mich zu sich gerufen, nachdem wir in der Nachbarschaft rumgegangen waren und Süßigkeiten gesammelt hatten, und uns die Geschichte von Brownrigg Mill erzählt. Sie handelt von einer Hexe und hat alles, was Kindern Angst macht: abergläubische Menschen, böse Flüche, geheimnisvolle Todesfälle und sogar eine dreibeinige Katze. Wenn mein Vater zu Ende erzählt hatte, waren wir so verängstigt, dass wir nicht einschliefen. Er konnte ein Seemannsgarn spinnen, das war unglaublich.«
Sie dachte, wie sehr sich das Leben in einer Kleinstadt mit seinen Geschichten von ihren Erfahrungen in Atlanta unterschied.
»Das hat bestimmt Spaß gemacht.«
»Allerdings. Wenn du magst, kann ich Kyle auch mal eine Geschichte erzählen.«
»Ich glaube nicht, dass er verstehen würde, was du sagst.«
»Vielleicht erzähle ich ihm die von dem verzauberten Monster Truck in Chowan County.«
»Die gibt es nicht.«
»Ich weiß. Aber ich könnte sie erfinden.«
Denise drückte seine Hand.
»Wieso hast du keine Kinder?«, fragte sie.
»Ich habe das falsche Geschlecht.«
»Du weißt, was ich meine«, sagte sie und stieß ihn an. »Du wärst ein guter Vater.«
»Ich weiß nicht. Es hat sich nicht so ergeben.«
»Wolltest du welche haben?«
»Manchmal ja.«
»Dann solltest du welche bekommen.«
»Jetzt klingst du wie meine Mutter.«
»Du weißt, was man immer sagt: Zwei große Menschen, ein Gedanke.«
»Auch wenn du es selbst sagst?«
»Genau.«
Als sie dem Hafen den Rücken kehrten und wieder zur Stadt gingen, musste Denise daran denken, wie sehr sich ihre Welt in letzter Zeit verändert hatte, und ihr wurde bewusst, dass das alles auf den Mann neben ihr zurückzuführen war. Doch trotz allem, was er für sie getan hatte, hatte er sie nicht ein einziges Mal zu etwas gedrängt, wozu sie noch nicht bereit war. Sie hatte den ersten Schritt gemacht und ihn geküsst und sie war es auch gewesen, die ihn das zweite Mal geküsst hatte. Selbst als er nach dem Nachmittag am Strand den Abend bei ihr verbracht hatte, war er gegangen, als er merkte, dass es Zeit wurde.
Die meisten Männer hätten sich nicht so verhalten, das war ihr klar. Die meisten Männer ergriffen die Initiative, sobald sich die Gelegenheit ergab. Genau das war schließlich mit Kyles Vater passiert. Aber Taylor war anders. Er nahm sich die Zeit, sie erst kennen zu lernen und ihr zuzuhören, wenn sie über ihre Probleme sprach; er war es zufrieden, schief hängende Schranktüren zu richten und auf der Veranda zu sitzen und Eis zu machen. Er hatte sich in jeder Hinsicht als Gentleman erwiesen.
Aber weil er sie nie gedrängt hatte, merkte sie, dass sie ihn mit einer Intensität begehrte, die sie überraschte. Sie wollte wissen, wie es sich anfühlen würde, wenn er sie endlich doch in die Arme nahm, wenn er ihren Körper berührte und mit seinen Fingern über ihre Haut fuhr. Bei dem Gedanken daran durchfuhr sie ein wohliger Schauer, und sie drückte seine Hand.
Als sie zu seinem Truck gingen, kamen sie an einer offenstehenden Tür vorbei. Auf dem Türglas konnte man die Gravur
Trina's Bar
lesen. Nur das Fontana und diese Bar waren im Stadtzentrum noch geöffnet. Denise warf einen Blick hinein und sah drei Paare, die an kleinen runden Tischen saßen und sich leise unterhielten. In der Ecke war eine Jukebox, aus der ein Country-Song ertönte. Der nasale Bariton des Interpreten verklang mit den letzten Takten. Nach einer kurzen Pause wurde die nächste Platte auf den Teller gelegt. »Unchained Melody«. Denise blieb spontan stehen, als sie das Lied erkannte, und zog Taylor an der Hand.
»Ich liebe dieses Lied«, sagte sie.
»Möchtest du reingehen?«
Sie überlegte, während die Melodie erklang.
»Wir könnten tanzen, wenn du möchtest… «, fügte er hinzu.
»Nein. Ich käme mir komisch vor, wenn die anderen uns zusähen«, sagte sie nach einem Augenblick. »Außerdem ist nicht genug Platz.«
Kein Auto fuhr auf der Straße, die Bürgersteige waren leer. Eine einzige Straßenlaterne hoch auf einem Mast flackerte sacht und erleuchtete die Umgebung. Mit den Klängen der Musik drangen auch die leisen Stimmen der Gäste zu ihnen. Denise machte einen zögernden Schritt von der Tür weg. Die Musik spielte weiter und Taylor blieb stehen. Sie sah ihn fragend
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