Das Schweigen des Lemming
«Es muss was anderes sein … was anderes … eine Art Code … Was hast du noch einmal g’sagt? Im Schnabel ist er gesteckt, der Wisch?»
«Ja, Professor. Ich hab sofort an den Golem denken müssen …»
«Der Golem … gar nicht blöd. Der alte Rabbi Löw, der ausgefuchste Kabbalist … Wart einmal …»
Bernatzky streicht das Papier auf der Tischplatte glatt und fährt mit dem Finger die Ziffern entlang. Die grauen Zellen hinter seiner gerunzelten Stirn arbeiten auf Hochtouren, fast glaubt der Lemming, sie hören zu können wie das Stampfen einer Dampfmaschine. Plötzlich aber glätten sich die Falten, werden von einem breiten, zufriedenen Lächeln weggewischt, das sich über das Gesicht des Professors zieht.
«So ein Nebbich … Dass ich da nicht gleich draufgekommen bin …»
«Ja aber … Auf was denn gekommen?» Der Lemming schüttelt verständnislos den Kopf.
«Also horch. Der Trick ist mehr als primitiv, aber trotzdem wirksam, wie man sieht. Eine Kombination aus theosophischer Addition und theosophischer Reduktion, auf gut Deutsch: ein Quersummenspiel, verstehst?»
«Nein …»
«Schau. Wenn du alle Ziffern auf dem Zettel zusammenzählst, kommt einundsiebzig heraus, das ist die theosophische Addition. Aber einundsiebzig, das kannst wieder in zwei Ziffern zerteilen, und die beiden kannst dann gleich noch einmal addieren. So reduziert sich – nach Adam Riese – das Ganze auf acht.»
«Auf acht …» Der Lemming rechnet. «Stimmt», sagt er schließlich. «Und was soll das jetzt bedeuten, acht?»
Bernatzky hebt langsam die Arme und rollt mit den Augen. «Es ist», sagt er mit unheilvoller Stimme, «der gefürchtete Bannfluch des großen Bramburi, und er bedeutet: Nimm dich in Acht! … Nein, nein», winkt er gleich darauf grinsend ab, «Vergiss es. War nur ein Schmäh. Du musst ja nicht alle Ziffern addieren, du kannst sie ja auch aufteilen, auf kleinere Einheiten sozusagen. Immer vier zum Beispiel, oder – wie in diesem Fall – immer zwei, also 18, 14, 18, 45, 17, 42, 14, 03, 20, 01, 13 und 27.»
«Meinetwegen, nur … Woher wollen Sie das wissen?»
«Ganz einfach, Wallisch. Weil dann eine Telefonnummer herauskommt. Eine stinknormale Handynummer …»
«Neun, fünf, neun, neun …», murmelt der Lemming, den Blick auf den Zettel gerichtet. «Aber … beginnen diese Rufnummern nicht immer mit null?»
«Ja, siehst du, das ist die Crux bei der Sache», meint der Professor nachsichtig lächelnd. «Die Null ist gleichbedeutend mit der Neun. Weil wenn du null und zwei zusammenzählst, kommt zwei heraus. Und wenn du das Gleiche mit neun und zwei machst, kriegst du elf, theosophisch reduziert also wieder zwei. Du kannst alle Neunen durch Nullen ersetzen, ganz wie du willst. Viele Möglichkeiten gibt’s da eh nicht. Und welche richtig ist, wirst du merken, wenn du dort anrufst …»
Bernatzky lehnt sich zurück und verschränkt die Arme – reichlich selbstzufrieden, wie der Lemming findet. Trotzdem kann man es dem Alten nicht verübeln; er hat sich seine Eitelkeit verdient.
«Völlig vertrottelt war der nicht, der das geschrieben hat», fügt er jetzt noch hinzu, wie um seine eigene Leistung zu unterstreichen, «der hat das Ganze absichtlich wie Jahreszahlen aussehen lassen, damit ich nicht gleich auf die Lösung komm … Das macht kein besoffener Strizzi, verstehst? Das hat System …» Der Lemming greift in sein Jackett, um nun seinerseits den Professor zu überraschen. Er zieht sein neues Handy hervor und beginnt, die erste der möglichen Nummern zu wählen.
«Mein Gott, Wallisch, jetzt wirst noch zum Yuppie auf deine alten Tag …»
0 - 5 - 9 - 9 - 8 - 6 - 5 - 3 - 2 - 1 - 4 - 9, tippt der Lemming und lauscht konzentriert in sein magisches Ei. Nach einer kurzen, leidlich melodischen Tonfolge erklingt eine durchaus erotische Frauenstimme. «Der von Ihnen gewählte Anschluss», raunt sie dem Lemming mit sanftem Vibrato ins Ohr, «ist leider nicht vergeben. Bitte überprüfen Sie die Nummer und versuchen Sie es nochmals …»
Der Lemming tut es.
«0 - 5 - 9 - 9 - 8 - 6 - 5 - 3 - 2 - 1 - 4 - 0», murmelt er, während er sein Handy mit der variierten Ziffernfolge füttert.
Diesmal scheint es zu klappen: Das Freizeichen ertönt. Der Lemming horcht und wartet. Wartet lange und stumm. Hebt irgendwann
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