Das Schweigen des Lemming
den Kopf, sieht den Professor an und zuckt die Achseln.
Im selben Moment wird der Hörer abgenommen. Ein Knacken, ein Knistern, ein Rauschen im Äther, gleich darauf der leise, verhaltene Atem eines Menschen.
«Was ist jetzt?», wispert der Professor, dem der plötzliche Wechsel im Mienenspiel des Lemming nicht entgangen ist. «Sag schon, wer ist denn dran?» Doch der Lemming bedeutet Bernatzky zu schweigen.
Und dann meldet sich die Stimme am anderen Ende der Leitung, eine heisere, raunende Stimme, hart an der Grenze zum Flüstern. Eine Männerstimme.
«Pokorny?»
Es dauert eine Weile, bis der Lemming seine Sprache wiederfindet: Viel zu unerwartet, viel zu verwirrend ist der plötzliche geistige Zirkelschluss, den dieser Name in ihm auslöst. Ein Kurzschluss schon fast, ein Gedankenorkan, der die Worte mit sich reißt und hochwirbelt, um sie – gleichsam unter sich selbst – zu begraben.
«Bist … Bist du es? Bist du es wirklich? Pokorny?», stottert er schließlich doch noch in den Hörer.
Aber da hat der andere schon aufgelegt.
6
«Sagen Sie, Professor … Unterliegen Sie eigentlich der ärztlichen Schweigepflicht? Ich meine, als Forensiker?» «Aber sicher, Wallisch, selbstverständlich. Außer, meine Patienten entbinden mich davon …»
Solcherart überzeugt, hat sich der Lemming schließlich dazu entschlossen, Bernatzky auch den Rest der Geschichte zu erzählen, obwohl ihm das sein Auftraggeber eigentlich verboten hat.
«Hörtnagl?
Der
Hörtnagl?» Bernatzky hat nachdenklich in seiner längst geleerten Kaffeetasse gerührt. «Allerhand, Wallisch, allerhand. Sein Sohn war voriges Jahr bei mir in Behandlung … Nein, nicht, was du schon wieder denkst. Zeichnen hat er g’lernt, der Bub, in meinem Anatomiekurs. Na ja, probiert hat er’s wenigstens … Talent und Strebsamkeit, das sind zwei Pole einer Welt, die sich um den nur dreht, der beide fest in Händen hält …»
«Schiller?»
«Nein. Bernatzky. Aber danke, mein Lieber. Hast du g’wusst, dass der Hörtnagl-Vater nicht nur die schöne Tierwelt sponsert, sondern auch die schönen Künste? Verein der Freunde der Akademie und so weiter. Den Rest kannst dir denken, von edelmütigem Mäzenatentum ist das weit entfernt. Werbekosten schon eher, oder Schulgeld für den Herrn Junior, wenn du so willst. Wie viel, sagst du, hat er dir über den Tisch wachsen lassen?»
«Fünftausend …»
Da hat der Alte leise durch die Zähne gepfiffen.
«Wegen einem kaltgemachten Vogel? Heiße Sache, Wallisch, heiße Sache. Dass du dir da nur nicht die Finger verbrennst … Dieser Kollege von dir, dieser …»
«Pokorny …»
«Genau. Hat der einen Grund, dir eins auszuwischen?»
«Nein … Nicht, dass ich wüsste. Ich kenn ihn ja kaum …»
Bernatzky hat den Lemming mit einem langen, prüfenden Blick bedacht. Aber der hat mit Nachdruck den Kopf geschüttelt.
«Wirklich nicht. Mir ist schon klar, wie konfus das Ganze klingt. Und dass auf einmal alles gegen den Pokorny spricht …Er schanzt ausgerechnet mir seinen Nachdienst zu, er bricht extra die Vordertür auf, damit ich die ganze Schweinerei nur ja entdecke, und dann hinterlässt er mir noch seine Telefonnummer, damit ich auch weiß, wem ich das alles zu verdanken hab … Die Zeichen sprechen scheinbar klare Worte, allein die Sprache kann ich nicht verstehn …»
«Goethe?», hat Bernatzky irritiert gefragt.
«Wallisch», hat der Lemming gesagt.
Er lässt sein Gespräch mit dem Professor Revue passieren, während er durch die Liechtensteinstraße stadtauswärts wandert. An ihm vorbei donnert der Spätnachmittagsverkehr, zieht seine giftige Spur gegen Norden: dampfender Darmwind der Großstadt, chronische Blähsucht einer ruhelosen Metropole, nach deren täglichen Paroxysmen man die Uhr stellen kann. Halb fünf ist es, wie dem Lemming ein kurzer Blick auf sein Handy bestätigt. Er, der schon seit Jahren keine Uhr mehr trägt, ist nun also wieder zum Herrscher der Zeit avanciert. Und nicht nur die Zeit, auch den Raum macht ihm sein neuer Fetisch untertan: Ein Anruf bei der Telefonauskunft hat ihm im Handumdrehen Josef Pokornys Anschrift verraten.
Falls sein Kollege vorgestern wirklich ein Konzert in Linz gegeben hat, dann müsste er inzwischen wohl wieder zu Hause sein, überlegt der Lemming. Es ist hoch an der Zeit, Pokorny zur Rede zu stellen, und sei es auch nur, um den schlimmen Verdacht auszuräumen, der auf ihm lastet. Und damit die einzige Spur in
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