Das Schweigen des Lemming
Glasröhren. «Ohne Schönheit keine Schwäche, ohne Schwäche keine Liebe, ohne Liebe keine Babys …»
«Ohne Babys keine Präparate», ergänzt der Lemming leise.
«Natürlich, Wallisch, auch das. Was wir als Schönheit hier empfinden, wird bald als Wahrheit uns entgegengehen … Und? Wer hat’s gesagt?»
«Keine Ahnung … Der Goethe vielleicht?»
«Bravo, Wallisch, fast richtig. Der Goethe steht gleich vis-à-vis, auf der anderen Seite vom Ring. Und wer steht direkt vor der Akademie, auf dem Schillerplatz? Richtig. Dafür heißt das Gedicht auch
Die Künstler
… Der fortgeschrittne Mensch trägt auf erhobnen Schwingen dankbar die Kunst mit sich empor, und neue Schönheitswelten springen aus der bereicherten Natur hervor», deklamiert Bernatzky, während er heftig die Arme schwenkt, als dirigiere er die kaiserliche Blasmusik. «Aber bitte», fährt er dann mit einem Achselzucken fort, «es gibt auch noch andere Meinungen. Zum Beispiel: Die Schönheit vergeht, die Blödheit ist ewig … War schon ein Schlingel, der gute Nestroy, aber zugegeben, wo er Recht hat, hat er Recht … Wie auch immer», meint Bernatzky und mustert die zwei Gefäße, «ich glaub, ich werd einfach beidenehmen. Bei Kindern muss man behutsam sein, da soll man niemanden bevorzugen. Weißt, Wallisch, das Wintersemester kommt schneller, als man denkt.»
«Wintersemester?»
«Ja. Anatomisches Zeichnen, für die Studenten von der Akademie. Ich halt die Vorlesung schon seit Jahren, hast du das nicht gewusst?»
«Nein …»
«Ein bisserl Medizin gehört halt auch in der Kunst zur Grundausstattung. Oder glaubst du, der Leonardo hätt die Mona Lisa so hingekriegt, wenn er nicht vorher die menschlichen Lachmuskeln studiert hätt? Der alte Leichenfledderer war schon vor fünfhundert Jahren Stammgast auf dem Mailänder Friedhof …»
Bernatzky zieht eine Füllfeder aus der Manteltasche, beugt sich vor und kritzelt etwas auf die Etiketten, die an den Sockeln der beiden Glaszylinder angebracht sind.
«So. Schon requiriert. Damit den jungen Damen und Herren Künstlern nicht fad wird. Man muss denen schon etwas bieten, sonst lassen s’ am End noch den nötigen Ernst vermissen …» Mit drohend erhobenem Zeigefinger beginnt der Professor nun abermals zu rezitieren: «Bald drängten sich die staunenden Barbaren zu diesen neuen Schöpfungen heran. Seht, riefen die erfreuten Scharen, seht an, das hat der Mensch getan! Ja, ja, der Schiller, der alte Schlawiner …» Bernatzky wiegt schmunzelnd den Kopf hin und her. Nimmt dann den Lemming am Arm und meint: «Aber wenn mich nicht alles täuscht, bist du nicht gekommen, um mich ans Burgtheater zu holen. Obwohl du heute äußerst feierlich gewandet bist … Also sag schon, Wallisch, was kann ich für dich tun?»
Wenig später sitzen die beiden im schattigen Park des Clam-Gallas-Palais an der Währinger Straße und trinken Kaffee. Auf dem Weg dorthin hat der Lemming Bernatzky seinSchönbrunner Erlebnis erzählt; jetzt beugt sich dieser über den geheimnisvollen Zettel aus dem Schnabel des Pinguins, wischt sich gedankenverloren den Schweiß von der Glatze und rückt seine Brille zurecht.
«Pass auf», murmelt er, mehr zu sich selbst als zum Lemming gewandt, «also achtzehnhundertvierzehn, da haben sie den Napoleon nach Elba verbannt. Dann ist in dem Jahr der Sax geboren worden, der das Saxophon erfunden hat. Und der Samuel Colt, du weißt schon, der mit dem Revolver … Stell dir vor, es wär umgekehrt gewesen …»
«James Bond – Der Mann mit dem goldenen Sax», grinst der Lemming.
«Genau … genau … Und der Dings, der John Coltrane hätte Tenorcoltophon gespielt … Aber weiter: Achtzehnfünfundvierzig ist der Franklin zu seiner letzten Reise in die Arktis aufgebrochen. Und der Stokes hat sein parabolisches Geschwindigkeitsfeld für viskose Flüssigkeiten formuliert … Entschuldige, Wallisch», fügt der Professor hinzu, als er den ehrfurchtsvollen Blick des Lemming bemerkt, «aber solche Sachen
muss
man einfach wissen. Zumindest in meinem Metier … Siebzehnzweiundvierzig war die Schlacht bei Chotusitz … Mehr fällt mir zu dem Jahr beim besten Willen nicht ein. Da kannst du sehen, dass auch die Kapazitäten von Kapazitäten begrenzt sind … Dann vierzehnhundertdrei … Weißt du was, Wallisch? Mir scheint, das hat überhaupt keinen Sinn.»
Er lehnt sich zurück. Schließt die Augen. Betrachtet den Zettel ein weiteres Mal.
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