Das Schweigen des Lemming
diesem nebulösen Fall zunichte zu machen …
Wenn der Verkehr in dieser Gegend Wiens einem wütenden Strom gleicht, der alles mit sich reißt, was ihn zu queren versucht, dann ist das Haus, vor dem der Lemming wenig später steht, ein wahrhaft titanischer Fels in der Brandung. Wie ein Ozeandampfer stemmt es sich gegen die blechernenFluten, durchpflügt sie mit seinem steinernen Bug, an dessen spitzem Winkel sich die Fahrbahn in Döblinger Gürtel und Heiligenstädter Straße teilt. Sechs Stockwerke misst dieser rußgeschwärzte Riese; schon schwant dem Lemming, in welchem er Pokornys Wohnung finden wird: Türnummer achtundsechzig, das klingt beileibe nicht nach Souterrain oder Parterre.
Es ist schon fast fünf, als er das Dachgeschoss erreicht. Zwar gibt es auch hier einen Aufzug, doch dessen Funktion erschöpft sich in der kurzen, falschen Hoffnung, die sein bloßer Anblick verbreitet. Er setzt sich weder mit noch ohne Kleingeld in Bewegung, fährt weder hinauf noch hinunter. Überhaupt stellt sich das Innenleben des Gebäudes völlig anders dar als die Fassade: Verflogen ist plötzlich der ganze trotzige Stolz; die Gänge sind düster und eng, die Türen der Wohnungen schmucklos und schmutzig, was bleibt, ist schon eher das Bild eines Wracks als das eines wackeren Hochseeschiffs.
Desolater sieht nur noch Pokornys Mansarde aus.
Dass der Lemming das Loch, das ihm da entgegengähnt, überhaupt als den richtigen Eingang erkennt, verdankt er nur der Wiener Marotte, die Türnummern auf dem oberen Balken des Rahmens anzubringen. Das Türblatt selbst, auf dem er kurz darauf den krakeligen Schriftzug von Pokornys Namen entdeckt, liegt zwei Meter dahinter, liegt, seiner schützenden Funktion enthoben, auf dem Boden des langen, schmalen Vorraums.
Aus den Angeln getreten, konstatiert der Lemming nach einem kurzen Blick auf den zersplitterten Holzrahmen. Und er beginnt sich bereits damit abzufinden, dass das erhoffte Gespräch mit seinem Kollegen nicht stattfinden wird.
«Scheiße …»
Und was für eine Scheiße. Das geschulte Auge erkennt sofort, dass das Chaos, in dem die Wohnung versinkt, nichtauf Pokornys Schlampigkeit zurückzuführen ist. Vielmehr zieht sich eine fast schon penible Spur der Verwüstung durch alle Räume. Die kleine Küche rechts vom Eingang gibt ein Musterbeispiel aus dem Lehrbuch des Vandalismus ab; das Wohnzimmer, das hinter dem schmalen Vorraum liegt, ist ein Meisterstück vollendeter Zerstörungswut. Zwischen den Scherben zerbrochener Teller und Gläser sind Berge von Reis und Mehl verstreut; die wenigen ärmlichen Möbel sind umgeworfen, die Wände mit rostroter Flüssigkeit bespritzt – kein Blut, sondern Wein: Der Alkoholgeruch, der in der Luft hängt, spricht für sich. In das Bouquet von Zweigelt und Burgunder aber mischt sich noch ein anderes, ein strengeres Aroma, dessen Ursprung sich vor der Schwelle zum winzigen Bad befindet: Hier liegt ein großer, brauner Haufen auf dem Boden, und es ist kein Hundekot, was da so sorgfältig auf dem abgetretenen Teppichboden drapiert wurde. Mit Hundescheiße hat der Lemming seine Erfahrungen, Castro hat ihn schon vor Jahren alles darüber gelehrt. Nein, es handelt sich um eine menschliche Visitenkarte, eine peristaltische Paraphe, die der Urheber der ganzen Zerstörung hinterlassen hat, um sein Werk zu signieren. Die Zahl der Fliegen, die über der leicht vertrockneten Losung kreisen, lassen darauf schließen, dass sie schon länger da liegt, zwei, drei Tage vielleicht, schätzt der Lemming.
Fast wie in Trance wendet er sich von der stinkenden Markierung ab und beginnt nun, Stück für Stück das Wohnzimmer zu inspizieren. Es ist ein alter Ablauf der Bewegungen, eine lange geübte Routine, die in ihrer fast schon archäologischen Absicht der Arbeit Bernatzkys ähnelt: So wie dieser aus dem Mageninhalt eines Toten auf dessen letzte Mahlzeit schließen kann, versucht der Lemming, aus der zu Tode verwüsteten Wohnung den Charakter Pokornys zu rekonstruieren, seine Vorlieben und Gewohnheiten, kurz gesagt: seinen Lebensstil. Dass sein Kollege viel und gerne liest, daran besteht wohlkein Zweifel: Die allerorts verstreuten, teils zerfetzten Bücher breiten sich über den Spannteppich wie eine – wenn auch äußerst grobkörnige – Schneedecke. Aus philosophischer, theologischer und historischer Literatur besteht der etwas geringere Teil des Papierbergs. In erster Linie aber sind es Bände über Kunstgeschichte und Musik, die dem Lemming ins Auge
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