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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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meinst, der Pokorny war ein Anarchist, dann geb ich dir Recht, Wallisch. Wir waren alle jung und wild und impulsiv, haben uns nichts geschissen – als Kunststudent hat man ja damals noch Narrenfreiheit gehabt, das Extrovertierte hat gewissermaßen zum Berufsprofil gehört: Die Geschichte der Kunst ist ja immerhin eine Geschichte der Regelverstöße, der Tabubrüche, des Ringens um neue Wege und Perspektiven   … Wahrheitssuche, Wallisch, Wahrheitssuche ohne Wenn und Aber. Rüpelhaft und rüde, meinetwegen. Aber ehrlich. Sinnlich. Existenziell. Ja, im Grunde waren wir alle Anarchisten. Und der Pokorny ist es noch immer, wenn auch   … na ja, ein bisserl schaumgebremst. Er hat den Kampf nicht wirklich gewinnen können. Ich auch nicht, nebenbei   … Meine Suche beschränkt sich inzwischen auf ein paar Quadratmeter Leinwand, meine Keilrahmen sind sozusagen   … die Grenzwälle meiner Freiheit. Meine rechteckige Spielwiese, meine Spielwüste, mein Spielurwald. Klein, aber mein   …
    Wenn du heut auf die Akademie schaust, kommt dir das Grausen. Dagegen waren die siebziger, sogar noch die achtziger Jahre das reine Paradies. Wo wir damals bis zum Umfallen gesoffen, bis zur Ohnmacht gevögelt, bis aufs Messer gestritten haben, um uns selbst und damit die Welt zu begreifen, zu zertrümmern und neu zu erschaffen, da laufen sie heut wie die Zombies herum. Blass und stumm sitzen sie in der Mensa, essen Salat und nippen an ihrem Mineralwasser. Verheerend, sag ich dir, verheerend! Das Einzige, was noch an denen lebt, ist ihre Hoffnung auf den Jackpot. Darauf, mit ihren verkorksten Computerfraktalen und Installationen das große Geld zu machen. Man weiß nicht mehr, sind sie Installateureoder Elektrotechniker, Mathematiker oder Spekulanten   … Im Grunde ist es überall das Gleiche, da kannst du hinschauen, wo du willst: Wo früher Staatsmänner am Werk waren – stattliche, richtige Männer!   –, da findest du nur noch geistlose Einheitspolitiker. Die markanten Fabrikanten sind heute blutleere Aktionäre, aus honorablen Geschäftsleuten sind windige Manager geworden. Stereotyp und austauschbar, jeder mit jedem. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen: außen die Krawatte, innen die Habgier. Die Jagd nach dem Rubel ist alles, was zählt   …»
    Riedmüller holt Luft und greift zu seinem Glas, während der Lemming die Hände betreten zum Hemdkragen wandern lässt. Die Krawatte   … Trotz der nach wie vor herrschenden Hitze, trotz der inzwischen beachtlichen Menge an Riesling trägt er sie immer noch um den Hals. Er lockert den Knoten, schlüpft aus der Schlinge und lässt das ungeliebte Markenzeichen des Establishments in seiner Jackentasche verschwinden.
    «Aber freilich», fährt Herrmann Riedmüller nun fort, «freilich, wer kann sich’s schon leisten, aus dem Teufelskreis auszusteigen, wenn er nicht verhungern will? Ich leb ja schließlich auch von der Kunst, keine Frage. Manchmal besser, manchmal schlechter. Aber ich lebe immerhin auch
für
sie, wir bleiben einander nichts schuldig. Fünf, sechs Bilder verkauf ich im Jahr, wenn’s ein gutes ist. Da gibt’s keine vierzehn Monatsgehälter, keine Arbeitslosenunterstützung, kein Krankengeld: Wenn ich einmal die Grippe hab, kommt kein Groschen ins Haus. Und dann, auf der anderen Seite   … Liest du die Zeitungen, Wallisch? Es ist noch gar nicht so lang her, da haben sie einen bislang unbekannten Raffael entdeckt. An sich eine lustige Geschichte: Weil sich jemand vor dreihundert Jahren einen Erbschaftsstreit ersparen wollt, hat er einfach die Signatur auf dem Original übermalt und durch eine falsche ersetzt. Und dann ist er gestorben, ohne seinkleines Geheimnis zu lüften. Das Bild hat also bis vor kurzem als Kopie gegolten, und als solche ist es auch verkauft worden, an einen Schweizer Kunstliebhaber, wenn ich mich recht entsinne. Kaufpreis fünfzigtausend Euro. Und dann passiert’s: Durch einen Zufall kommt der neue Besitzer drauf, dass es doch ein echter Raffael sein könnte. Er lässt das Gemälde untersuchen, holt diverse Expertisen ein, und bingo! Weißt du, Wallisch, wie viel das Bild mit einem Schlag wert ist? Verstehst du, dasselbe Bild? Ich sag dir’s: Fünfzig Millionen   … Prost, Wallisch.»
    Riedmüller leert sein Glas mit einem Zug und breitet die Arme aus. «Fünfzig Millionen», sagt er noch einmal.
    «Wahnsinn   … Unglaublich», murmelt der Lemming. «Genauso viel wie die Dings, die Saliera   …»
    «Aber natürlich! Ja! Die

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