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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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ein:
Gib Acht auf die Proportionen, den Schwerpunkt leg tiefer, sonst glaubt man am End noch, dass er fliegen kann, der Vogel   …
»
    «Moment   … Verzeih, Riedmüller, aber   … Welcher Vogel?»
    «Der Pinguin. Wir waren im Polarium an dem Tag, weil’s draußen in Strömen geregnet hat. Ist das wichtig?»
    Der Lemming antwortet nicht. Er leert sein Glas, steht auf und tritt ans Fenster. Draußen hat sich die Finsternis über die Stadt gesenkt, drinnen verdüstern sich seine Gedanken: Ein weiterer Hinweis also, ein weiterer Puzzlestein, der keinen Sinn ergibt. Obwohl er farblich zu den anderen passt, kann man ihn drehen und wenden, wie man will: Kein grüner Zweig entsteht, kein roter Faden. Immer diffuser wird das Bild, statt sich zu klären, immer abstruser das Dickicht aus Spekulationen   …
    «Er war in seiner Freizeit öfter dort», erzählt Riedmüller nun weiter, «bei den Pinguinen, mein ich. Hat er uns jedenfalls erzählt damals.
Weise Tiere
, hat er gesagt,
weise, tragische Tiere: Sie können im Wasser nicht leben, sich nicht in die Lüfte erheben, also stehen sie an Land im Kellnergewand, um in himmlischen Träumen zu schweben   …
    Wir haben dann Schluss gemacht mit der Zeichnerei, es war sowieso schon später Nachmittag, also sind wir – alle gemeinsam – etwas essen gegangen. Und trinken   … Um es kurz zu sagen: Es ist ein langer Abend geworden. Ein Abend, der irgendwie nach vergangenen Zeiten gerochen hat: nach Bier und Wein und Rauch, nach tiefen Schmähs und geistigen Höhenflügen, nach alten Geschichten und neuen Ideen. Nach krausen Gedanken eben   … Kannst dir vorstellen, Wallisch, dass meine Studenten begeistert waren. Besonders vom Pokorny, der förmlich über sich selbst hinausgewachsen ist.Er hat das natürlich genossen: das Publikum, die ganzen jungen Leute, die an seinen Lippen gehängt sind, wo er sich doch sonst nur mit Affen- und Elefantenärschen unterhalten hat können   … Entschuldige, Wallisch, war nicht so gemeint   …»
    Riedmüller schmunzelt und füllt die Gläser nach. Obwohl er dem Lemming inzwischen um mehrere Achtel voraus ist, wirkt er noch nicht so recht betrunken; nur die gesteigerte Rötung seines Gesichts lässt darauf schließen, dass der Maler in die blaue Phase eingetreten ist.
    «Macht nichts», sagt der Lemming. Er löst sich vom Fenster, macht einen kleinen, ungewollten Ausfallschritt und lässt sich wieder auf das Sofa fallen. «Macht nichts   … Und weiter? Das Bild, das ich bei ihm gesehen hab? Hast du ihm das geschenkt?»
    «Nicht ganz   … Wir haben uns dann wieder öfter getroffen. Ich hab ihn ein paarmal zu überreden versucht, dass er in den Schoß der Bildnerei zurückkehrt, dass er als Nachtwächter abtritt und wieder zu malen beginnt. Aber keine Chance.
Es ist wie bei den Pinguinen
, hat er jedes Mal geantwortet:
Wichtig ist nicht, was man kann, sondern was man will. Und deshalb bleib ich in Schönbrunn, bei meinem Wach-Traum   …
Und so bin’s am Ende ich selbst gewesen, der gekündigt hat. Weil mir der technokratische Lehrbetrieb an der Akademie sowieso auf die Nerven gegangen ist. Und weil ich mich, um es mit dem Pokorny auszudrücken, ganz auf meinen Mal-Traum konzentrieren wollt   … Ein halbes Jahr Klausur im Atelier, und ich hab endlich wieder genügend Bilder für eine ordentliche Ausstellung zusammengehabt. Galerie
Konodul
, die gleiche wie bei der Vernissage morgen Abend. Und so wie morgen hat auch damals der Pokorny musiziert   … Hast du ihn schon einmal spielen gehört?»
    «Nein», muss der Lemming gestehen. «Noch nie.»
    «Ich sag dir’s, ich sag dir’s, der Pokorny   … Ein wahrer Meister. Spielt Ziehharmonika wie Jackson Pollock höchstpersönlich.So, als hätt sich der Ray Charles an der Malerei versucht. Verheerend, Wallisch, verheerend   … Aber trotzdem durchaus hörenswert. Schräg. Skurril. Kapriziös. Eine wüste atonale Selbstbehauptung. Für seinen Auftritt jedenfalls hat der Pokorny das Bild gekriegt   …»
    «Und der Hörtnagl?»
    Wieder legt Riedmüller seine Stirn in Falten, wieder breitet er priestergleich die Arme aus. «Der Herr Kommerzienrat hat seines natürlich gekauft, ganz offiziell   … Ein großer Mann, der Herr Kommerzienrat, ein Musenfreund, ein wahrer Musaget!»
    «Und du meinst das jetzt ernst?»
    «Aber ja, selbstverständlich! Er hat seinem Herrn Filius sogar das Studium der schönen Künste gestattet, obwohl er selbst   … Wie soll man das sagen  

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