Das Schweigen des Lemming
…»
Wenn das menschliche Gedächtnis einem sperrigen Schrankkoffer gleicht, den man selbst dort noch mit sich schleppt, wo man allerhöchstens eine Zahnbürste braucht, dann ist der Alkohol wie ein freundlicher Page, der einem dieses lästige Gepäckstück abnimmt. Hurtig verschafft er Erleichterung von der geistigen Sammelsucht, indem er den erinnerungsschweren Koffer um die nächste Ecke bringt und dort in Luft auflöst. An sich ein praktischer Vorgang, der nur dann problematisch wird, wenn man an Orte reisen will, die ohne intakte Gedächtniskraft nicht zu erreichen sind. In die Vergangenheit zum Beispiel …
Es muss zirka halb zehn gewesen sein, als Herrmann Riedmüller damit begonnen hat, dem Lemming seine Bilder zu zeigen. Eines ums andere hat er sie umgedreht, hat seinem staunenden, wenn auch schon ziemlich benommenen Gastsein eindrucksvolles malerisches Universum präsentiert. «Welches deiner Werke findest du am gelungensten?», hat der Lemming schließlich gefragt, und Riedmüller hat, ohne zu zögern, geantwortet: «Den Sebastian, meinen Buben.»
Was aber ist dann geschehen?
«Ich war bei einem Bekannten», fängt der Lemming nun mit heiserer Stimme zu erzählen an, «bei einem Maler … einem Kunstmaler. Du weißt schon, wegen der Pinguinsache … Ein Freund vom Pokorny … Ich muss irgendwann aufs Klo gegangen sein …»
«Und dann?»
«Dann … Ja, natürlich! Wie ich zurückkomm, malt der mein Sakko an. Auf seinen Arbeitstisch hat er’s gebreitet und wie ein Wilder den Pinsel geschwungen … Zur Strafe, hat er gesagt, weil ich kein Bild von ihm kauf …»
«Und du?»
«Was ich?»
«Na, hast du nichts gesagt?»
«Doch … Ich glaub schon …»
Klara schüttelt vorwurfsvoll den Kopf, aber ihr Lächeln ist sanft. Ein wenig Mitleid liegt darin, und auch ein wenig Zärtlichkeit.
«Sag, ist das nicht dein einziger Anzug, Poldi?»
«Ich fürchte, ja … Genau: Das war’s, das hab ich ihm auch gesagt …»
«Und er?»
«Er hat gemeint, wenn er einmal tot ist, kann ich mir hundert neue dafür kaufen …»
«Geh, Poldi …»
Klara steht auf und nähert sich der Jacke des Lemming. Sie beugt sich vor und kneift die Augen zusammen. «Nicht, dass ich so mit dir auf den Opernball gehen tät, aber … Eigentlich schaut das gar nicht so übel aus.» Während sie den Sessel umrundet, um Riedmüllers Kreation von allen Seiten zu betrachten,versucht der Lemming angestrengt, den Rest des gestrigen Abends zu rekonstruieren.
Gegen Mitternacht ist der zweite Doppler zur Neige gegangen, und mit ihm ist auch der schöpferische Impetus des Malers verebbt. Der Lemming hat das noch feuchte Sakko die Stiegen hinuntergetragen, mit weit von sich gestreckten Armen, so wie man etwas Ekelerregendes, Stinkendes trägt. Oder auch etwas Fragiles, sehr Wertvolles … Das Hochgefühl, sich derart unverhofft im Besitz eines echten Riedmüller zu wissen, hat seine Schritte beflügelt, ihnen einen Schwung verliehen, dem sein vom Riesling verminderter Gleichgewichtssinn nicht mehr ganz gewachsen war. Wie sonst wäre es wohl zu erklären, dass er, kaum durch das Haustor getreten, aus der Rechtskurve geschlittert ist, um in eines der am Rand des Trottoirs geparkten Autos zu laufen? Wenigstens ist es ihm gelungen, die frischen Farben auf dem Jackett vor gröberem Schaden zu bewahren: Ein geistesgegenwärtiges Manöver, eine hastige Rotation um die eigene Achse hat ihn mit dem Hintern gegen die Seitentür des grünen VW prallen lassen – daher also dieses dumpfe Gefühl der Betäubung im Steißbein.
Mehr Kaffee … Wenn er seinen Arsch schon nicht zum Erwachen bringt, dann doch möglicherweise den Rest des benommenen Körpers – die Schaltzentrale zumindest …
«Sag, wie heißt er denn eigentlich, dein Malerfreund?», fragt Klara, an den Tisch zurückgekehrt.
«Riedmüller …», murmelt der Lemming.
Es ist nicht der dampfende Kaffee, der ihn gleich darauf hellwach werden lässt. Nein, es ist Klaras Reaktion auf seine Antwort: Die Salzgurke, die sie eben erst aus dem Einmachglas gefischt hat, entgleitet ihren Fingern, prallt an der Tischkante ab und fällt mit einer eleganten Pirouette auf den Boden. Klara macht keine Anstalten, sie aufzuheben. Kreidebleich starrt sie den Lemming an, greift dann zur Zeitung, die geöffnet auf dem Tisch liegt, und hält sie ihm wortlos hin.
DIE REINE WAHRHEIT VOM 2. SEPTEMBER 2003
NOCH IMMER KEIN REGEN IN SICHT
Wann wird
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