Das Schweigen des Lemming
Kamine. Schwingt sich schließlich – gleich einem Schwarm verspielter Schmetterlinge – in den Himmel und taucht mit frischer Kraft in die saftigen Rebzeilen nordöstlich der Stadt ein.
Große Dinge werden sich ereignen.
Angetan mit einem viel zu großen, bunt gemusterten Anzug, steht Josef Pokorny im wogenden Gras. Lauscht mit geschlossenen Augen, wartet auf seinen Einsatz. Jetzt geht ein Ruck durch seinen Körper, die plötzliche südliche Brise zaubert ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hebt den Kopf, ergreift das schwarze Akkordeon, das vor seiner Brust hängt, und zieht mit energischer Armbewegung Luft in den Balg.
Große Dinge werden sich ereignen. Wahrhaft große Dinge. Der Lemming sitzt ihm gegenüber auf einem jener unbequemen Klappstühle, wie man sie zumeist in den Gärten der Heurigen findet. Starr sitzt er da und völlig regungslos. Obwohl er gerne aufstehen würde, versagt sein Körper ihm den Dienst: Die kleinen Impulse, die sein Gehirn an die Glieder sendet, fressen sich auf halber Strecke fest, gerinnen zur bloßen Idee von Bewegung. Nichts bleibt ihm also zu tun, als seines Schicksals zu harren …
Das Schicksal nähert sich von hinten, in Form eines Mannes, der einen seltsamen, nie gesehenen Bauchladen trägt: einen mächtigen hölzernen Aufbau mit Tausenden Rädchen und Knöpfen, Fächern und Laden, die sich – angetrieben von versteckten Mechanismen – lautlos öffnen und schließen, entfalten und wieder zusammenklappen wie die Kiemen eines sterbenden Fisches.
Der Mann ist Herrmann Riedmüller. Obwohl er hinter dem Lemming steht, kann dieser sein breites, zufriedenes Lächeln sehen, sein rosiges, rundes Gesicht. Und seinen wallenden Burnus, der sich nun aufbläht wie das Gewand eines tanzenden Derwischs. Auf ein leises Nicken Pokornys hin greift nunRiedmüller in eines der Fächer des Bauchladens, um einen riesigen Pinsel herauszuziehen. Mit dem rauschhaften Ausdruck meditativer Entrücktheit steckt der Maler das borstige Ende in das linke Ohr des Lemming. Und Pokorny beginnt zu spielen.
Ein einziger, hoher, unerträglich schriller Ton durchschneidet die Luft, während Riedmüller sein Malgerät langsam und unaufhörlich in den Schädel des Lemming treibt. Tief und immer tiefer dringen die Borsten in das Gehirn, durchstoßen, zerquetschen die träge graue Masse …
Irgendjemand klingelt draußen an der Tür. Wie lange schon? Der Lemming weiß es nicht. Er fasst sich an den Kopf, versucht, Riedmüllers Pinsel aus dem Ohr zu ziehen, doch er greift ins Leere. Der stechende Schmerz, das grelle Pfeifen lässt sich nicht entfernen. Der Lemming wälzt sich stöhnend aus dem Bett, stolpert hinaus in den Vorraum, strauchelt der Eingangstür entgegen.
«Na servus …», grinst Klara und drückt sich am schwankenden Lemming vorbei in die Wohnung. Nachdem sie ihre prall gefüllte Einkaufstasche abgestellt hat, dreht sie sich um und betrachtet ihn mit lang erprobtem Kennerblick.
«Einen Sibirischen Tiger hab ich heut schon behandelt», meint sie, «ein Weibchen allerdings. Jetzt muss ich mich auch noch um deinen Kater kümmern …»
«Wie spät ist es denn?»
«Kurz vor elf. Kaffee?»
«Ja, bitte … Wenn du so lieb bist …»
Und dann packt Klara fröhlich pfeifend die Tasche aus, während der Lemming ins Bad stürzt, um sich zu übergeben.
Als er – frisch geduscht – ins Wohnzimmer zurückkehrt, wartet bereits das Frühstück auf ihn – ein Frühstück, das schon mehr ein Mittagessen ist, gemessen an der Uhrzeit jedenfalls. Klara blättert in der
Reinen Wahrheit
, trinkt Kaffee undknabbert versonnen an einer Salzgurke. Dann aber lässt sie die Zeitung sinken und starrt den Lemming kopfschüttelnd an. «Sag, was ist dir denn da passiert?»
«Wo?»
«Na da! Deine Jacke …»
Jetzt erst bemerkt er es. Am anderen Ende des Raumes, sorgfältig über die Sessellehne gehängt, sein Sakko. Sein ehemals dunkelblaues Sakko …
«Scheiße … Meine Jacke …»
Leuchtend ziehen sich nun kräftige orange Flächen über den gesamten Rücken des Jacketts, nur durchbrochen von rostbraunen Schlieren, die suchend nach oben streben, um – knapp unterhalb des Kragens – in einen breiten rubinroten Streifen zu münden. Bis weit zu den Ärmeln hinab reicht das volle Rot, verdunkelt sich dann und verliert sich unweit der Ellenbogen im nachtblauen Stoff.
«Wahrhaft große Dinge …», murmelt der Lemming.
«Was sagst du?»
«Nichts … Krause Gedanken
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