Das Schweigen des Lemming
Bewegung und überquert die Porzellangasse, um schräg vis-à-vis in die Fürstengasse zu schwenken, die am herrschaftlichen Palais Liechtenstein vorbei zum vorläufigen Ziel des Spaziergangs führt: zur Strudlhofstiege.
Der Lemming hat einen Plan. Einen, den man nur dann begreift, wenn man mit der Verkehrssituation in diesem Bereich des neunten Bezirks vertraut ist. Während der Fußgänger nämlich nicht mehr als neunundfünfzig Stufen zu überwinden hat, um vom unteren Ende der Stiege nach obenzu kommen, muss der Automobilist einen gewaltigen Umweg in Kauf nehmen. Seit der Großteil der Boltzmanngasse zur terroristen- und damit verkehrsfreien amerikanischen Zone erklärt worden ist, führt die Ausweichroute weit nach Süden, schon fast bis zum Ring, dann hinauf zur Votivkirche und über die Währinger Straße zurück, bis man endlich in den kurzen befahrbaren Abschnitt der Boltzmanngasse biegen kann. Sechs Ampeln säumen diese Strecke; selbst wenn alle auf Grün stehen, bedeutet das rund fünf Minuten Fahrzeit.
Alle Zeit der Welt.
Gemessenen Schrittes, aber sichtlich entschlossen steuert der Lemming auf den unteren Absatz der Stiege zu. Er dreht sich nicht um, verlässt sich ganz auf sein Gehör: hinter ihm kreischende Bremsen und heftiges, zorniges Hupen. Der Käfer hat sich auf den Weg gemacht …
Stufe um Stufe steigt der Lemming nun hoch, betrachtet die Büsche und Bäume ringsum, schnuppert hier und da an einer Blüte. Oben angekommen, setzt er sich auf eine Parkbank, lehnt sich zurück und schließt die Augen. Nur das Zwitschern der Vögel, das friedliche Plätschern des Brunnenwassers. Ruhe, herrliche Ruhe.
Zwei oder drei der sechs Ampeln haben die rasende Fahrt der Verfolger wohl doch ein wenig verzögert: Erst nach zwölf Minuten schiebt sich der grüne Käfer um die Ecke, nimmt gleichsam Witterung auf und legt sich dann nahe der Kreuzung auf die Lauer. Der Lemming erhebt sich, streckt seine Glieder und geht dem Wagen entgegen. Schon nach wenigen Schritten aber greift er sich an die Stirn, als habe er etwas vergessen, und macht auf der Stelle kehrt. Schlendert wieder auf die Stiege zu und beginnt hinabzusteigen. Hinter ihm heult wütend der Boxermotor auf, quietschende Reifen, ein lupenreiner Kavalierstart …
Herrliche, herrliche Ruhe. Leider nur kurz: Diesmal dauertes knappe neun Minuten, bis der VW um die Ecke linst. Mit gelangweiltem Seufzen erhebt sich der Lemming von seiner Bank und macht sich erneut an den Aufstieg.
Ein letztes Mal noch nehmen seine Häscher den Umweg auf sich, ein letztes Mal noch wartet er geduldig am oberen Ende der Treppe, bis der gerundete Bug des Wagens zwischen den Häusern erscheint. Als er sich nämlich dazu anschickt, die Stufen abermals hinunterzugehen, erstirbt das Motorengeräusch. Dafür kann man nun – kurz nacheinander – zwei Türen zuschlagen hören. Sein Plan ist geglückt: Die Bluthunde haben den Käfig, den Käfer verlassen.
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«Damit du die Sache verstehst, muss ich ganz am Anfang beginnen … Mit der ersten meiner vier Geschichten. Geschichten von … Na gut, nenn’s meinetwegen Aktionismus. Immer noch besser als
Happening
oder
Performance
… Obwohl ich ja mit solchen Ismen eher wenig am Hut habe. Sobald du an ein Wort die Endung -ismus hängst, wird die Idee dahinter stante pede katalogisiert und abgeheftet, quasi passgerecht gemacht für die Amtsschimmel, die Paragraphenreiter und die schwarzen Listen der Demagogen. So wie im achtundsechziger Jahr, bei der so genannten
Uni-Ferkelei
: Der Günter Brus, der Otto Mühl und der Oswald Wiener haben sich damals im großen Hörsaal der Universität vor versammeltem Publikum ausgezogen, sich angebrunzt, in der eigenen Scheiße gewälzt, gekotzt und onaniert. Ruck, zuck den Stempel drauf und alle drei verurteilt: Gefängnis und Exil. Und wie hat er geheißen, der Stempel?
Wiener Aktionismus
. Solche Begriffe dienen nicht als Insignien, sondern als Kainsmal.
Ob ich’s besonders geistreich find, sich öffentlich einen runterzuwichsen? Das steht auf einem anderen Blatt. Nur: Wer’smag, der soll auch dürfen. Schließlich war niemand gezwungen, sich das anzuschauen.
Aber bitte, ich will dir ja eigentlich etwas ganz anderes erzählen. Die Geschichte vom Schiele nämlich. Ja, vom Egon Schiele, dem berühmten österreichischen Maler. Der ist so oft abgestempelt worden, dass er per Post eine Weltreise machen hätt können: Impressionismus, Expressionismus, Secessionismus, Manierismus … Und
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