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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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hervor, «Drecksau! Drecksau!»
    Schon macht er ein, zwei drohende Schritte auf den Lemming zu, und der weicht zurück, bis er gegen den breiten Leib Putzers stößt.
    «Drecksau!»
    Wie ein Zombie, nein, wie der Golem wankt Florian Hörtnagl durch die Toilette, sein starrer Blick bohrt sich in die zwei Männer, die nun gemeinsam den Ausgang blockieren. Frisst sich förmlich durch sie hindurch, ohne sie tatsächlich wahrzunehmen. Er sieht etwas anderes, Hörtnagl, sieht etwas, das nur er selbst sehen kann.
    «Drecksau! Alte, verschissene Drecksau!»
    Dann spannt er die Muskeln an und springt.
    Geschätzte siebzig, vielleicht achtzig Kilo rammen hundertneunzig, wenn man den Lemming und Putzer zusammenzählt: das Resultat der Kollision scheint – physikalisch jedenfalls – vorherbestimmt. Und trotzdem: So, wie eben noch Hörtnagls Blick die Phalanx durchdrungen hat, tut es nun sein kleiner, gedrungener Körper – ein wuchtiger Stoß in den Magen schleudert den Lemming zurück, er prallt gegen Putzer und reißt den Hünen zu Boden.
    «Scheiße   …», ächzt Bernhard Putzer.
    «Drecksau! Dreckiges altes Schwein!»
    Florian Hörtnagl springt über die beiden Männer hinweg und läuft fluchend die Treppe hinauf. Schon hat er die Glastür zur Straße erreicht, als sich der Lemming – noch etwas benommen – aus Putzers Umarmung löst, um wieder auf die Beine zu kommen.
    «Scheiße   …», murmelt jetzt auch er, der Lemming. Und er stolpert hinter Hörtnagl her.
     
    Wien ist die Geburtstagstorte eines alten Mannes. Und die Kerzen darauf sind die zahllosen Baukräne, die – vor allem in der warmen Jahreszeit – aus allen Straßenschluchten wuchern.Wohnraum ist kostbar und teuer in der Kaiserstadt, also mauert und betoniert man sich millimetergenau an die Grenzen der Bauordnung heran – in der Vertikalen selbstverständlich, wie es einer Metropole angemessen ist.
    Fahlblaues Mondlicht bestreicht das nächtliche Häusermeer. Warm und klar ist die Luft; im Nordosten, jenseits der Donau, kann man sogar noch die Lichter von Floridsdorf schimmern sehen. Eine sanfte Brise kommt auf, verfängt sich im Gestänge und lässt den stählernen Arm des Krans über die Dächer der Altstadt schwingen. Der Lemming krallt sich fest, auf allen vieren, zitternd und mit weißen Fingerknöcheln. Wagt nicht, den Kopf zu heben. Starrt stattdessen den Schweißperlen nach, die von seiner Nase in die Tiefe tropfen. Unten, auf dem Franziskanerplatz, hat sich inzwischen eine stattliche Menschenmenge versammelt, deren Gesichter von hier oben nur als kleine, helle Flecken zu erkennen sind. Ab und zu blitzen gleißende Lichtpunkte auf: die allgegenwärtigen Kameras der Touristen, wie der Lemming vermutet. Wien, so werden sie später in Yokohama und Tokio erzählen, besteht nicht nur aus Hofburg und Stephansdom, aus Lipizzanern und Sängerknaben, nein: Wien, das sind auch zwei verrückte Männer auf einem gelben Baukran.
     
    Lange hat sie ja nicht gedauert, die Jagd. Ziellos und hektisch ist Hörtnagl durch die engen Gassen gesprintet, hat hier und da einen Haken geschlagen, eine Kurve genommen, um am Ende wieder da zu landen, wo seine plötzliche Flucht begonnen hat. Einen Häuserblock weit ist er dann noch gelaufen, den Lemming immer auf den Fersen, bis schließlich gegenüber der Franziskanerkirche der Kran vor ihm aufgetaucht ist. Und so hat sich Hörtnagl dazu entschieden, senkrecht weiterzutürmen, hat begonnen, die gut zwanzig Meter hohe Konstruktion hinaufzuklettern. Kurz entschlossen ist der Lemming hinterhergestiegen – das Zögern, das Zaudern,das Zittern ist erst drei Minuten später gekommen, als er die Steuerkabine passiert hat und Hörtnagl auf das schaukelnde Gerippe des Schwenkarms gefolgt ist.
     
    «Geh weg!», kreischt Hörtnagl, der sich mittlerweile ans äußerste Ende des Auslegers klammert. «Geh endlich weg! Lass mich in Ruhe!»
    «Ich tät ja gerne   …», stöhnt der Lemming. «Aber ich kann nicht   … Ich schaff’s einfach nicht   …»
    «Brauchst du ’leicht Hilfe, du Arschloch? Ich komm und helf dir, ich komm rüber und hau dich runter!»
    «Jetzt beruhigen Sie sich doch, um Himmels willen   …»
    Der Lemming versucht, den Griff der rechten Hand zu lockern, sie ein Stück weit nach hinten zu schieben: vergeblich. Sosehr er sich auch bemüht, es gibt kein Vor und kein Zurück; sein Körper ist nur noch ein harter, von Krämpfen gebeutelter Klumpen. Er hängt an den eisernen Trägern wie ein Kokon im Geäst

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