Das Schweigen des Lemming
ja schon lang nicht mehr, die Kuriositäten- und Abnormitätenkabinette auf den Jahrmärkten, aber mit ihrem Aussterben hat sich ein anderes Phänomen etabliert:die Künstlerverehrung. Statt des Elefantenmenschen wird heute der Künstler bestaunt, und wohlgemerkt: der Künstler höchstpersönlich. Weit mehr als seine Arbeiten gilt er selbst als das Kunstwerk, das Mysterium. Es ist fast so, als würde man den Winzer trinken wollen, nicht den Wein. Fast natürlich nur, nicht ganz: Der Kunstmarkt lebt ja besser denn je von den Blättern der Bäume, die dem Geist seiner Paladine entsprießen. Es sind Reliquien, kostbare Ikonen; man glaubt, mit ihnen ein Stück von der heiligen Seele des Künstlers zu besitzen.
Vom Leonardo da Vinci wird erzählt, dass er einmal stundenlang in einer Ecke seiner Werkstatt gestanden ist und gebannt auf die Wand gestarrt hat. Dort hat sich am Verputz ein Wasserfleck gebildet, eine feuchte, braune Schliere mit grünem Schimmel an den Rändern. Irgendwann hat einer seiner Schüler den Alten gefragt, was ihn so fesselt an diesem Anblick. Und Leonardo hat gemurmelt: ‹Selbst wenn ich tausend Jahre alt würde, könnte ich etwas so Wundervolles nicht zustande bringen …›
Jetzt frag ich dich: Ist die Kunst erst Kunst, wenn sie von einem wachen, klaren und geschulten Geist hervorgebracht wird? Oder geht es letztlich doch nur um das Resultat, um die sichtbare, spürbare Ausgeburt, völlig egal, ob sie das Werk eines gelernten Spezialisten, eines Dilettanten, eines Schimpansen oder eines Wasserrohrbruchs ist? Der große Leonardo hat die Frage auf seine Weise beantwortet: Er war davon überzeugt, in einer undichten Regenrinne seinen Meister gefunden zu haben.
Die heutigen Sammler und Kuratoren denken da ein bisserl anders. Für sie muss der Künstler schon ein Mensch – na, zumindest ein Lebewesen sein. Das Problem bei der Sache ist nur: Es gibt mittlerweile so viele … Ein Job, der dich – mit etwas Glück – zur steinreichen lebenden Legende macht, zieht die jungen Leut natürlich an wie das Licht die Motten.Wie also noch unterscheiden zwischen den echten und den falschen Künstlern, zwischen den rein beruflichen und den wahrhaft berufenen? Die Lösung ist ganz einfach, und sie lautet: zurück zum Kuriosen.
Nachdem man sich eine Zeit lang mit den Bildern und Skulpturen der letzten Eingeborenenvölker sanieren konnte, dann mit Kinderzeichnungen und mit den Gemälden geistig Behinderter, hat man sich etwas Neues einfallen lassen müssen. Es kann den Leuten halt gar nicht archaisch genug sein: ungekünstelte Kunst, das ist es, was sie wollen. Man hat natürlich verschiedenste Drogen ausprobiert, um die Wurzeln des Bewusstseins, des gestalterischen Willens freizulegen: eine Sackgasse. Der ganze psychedelische Mist ist glücklicherweise passé. Also erfindet die westlich-moderne Vernunft inzwischen ausgeklügelte Systeme, um sich selbst zu überlisten und dem Zufall, dem Chaos, dem göttlichen Quell aller Schöpfung den Weg zu bereiten: Da werden eigens Maschinen konstruiert, um die Farben auf die Malgründe zu schleudern, da werden zufallsgesteuerte Spritzdüsenanlagen verwendet, da werden die Leinwände der Witterung ausgesetzt oder dem Einfluss unberechenbarer Chemikalien, bis sie zu so etwas wie Bildern mutieren. Der Unterschied zu Leonardos Wasserfleck besteht nur darin, dass diese Prozesse unter menschlicher Ägide stattfinden. Geht die Regenrinne von allein kaputt, ist’s keine Kunst. Aber wenn du selbst das Leck hineinschlägst …
Und dann natürlich die Tiere: Kunst am Puls der Natur, primitiver geht es schon gar nicht mehr. Man setzt Schimpansen und Orang-Utans vor die Staffelei, man drückt den Elefanten Borstenpinsel in die Rüssel, man lässt Katzen und Hunde und Esel malen …
Warum ich dir das alles erzähle? Ganz einfach: Weil es mich zur dritten Geschichte bringt, zum Streich der Löwin nämlich. Weil ihre schrullige Störaktion an diesem wunden Punktdes Kunstbetriebs angesetzt hat. Nur dass sie noch eine gehörige Prise Frömmelei hinzugefügt hat, um dem Ganzen die richtige Würze zu geben …
Gleich hinter der Akademie steht die berühmte Secession mit ihrer riesigen goldenen Lorbeerkuppel. Du kennst sie ja, du weißt ja, was vorn auf der Fassade steht:
Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit
… Ein Leitsatz, eine Maxime für die Löwin, den Adler, den Bären und den Floh. Also hat sich die Löwin die Freiheit genommen, bei einer Ausstellung
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