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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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  …» Noch einmal dieser ängstliche Seitenblick – der Blick eines Schafs, das aus der Herde ausgerissen ist. «Wir machen das immer so. Jeder kümmert sich um sein eigenes Instrument   …»
    «Verstehe   … Sagen Sie   … Hätten Sie heute nicht zu fünft spielen sollen? Der Pepi Pokorny ist zufällig so etwas wie ein Freund von mir   …»
    Mit einem Schlag erstarrt das ohnehin schon frostige Schweigen ringsum zu eisiger Stille. Für einen Moment scheint die Zeit stehen zu bleiben, dann nimmt Leonie Wernle ihre Arbeit wieder auf, als hätte sie die Frage nicht gehört. Ihre Augenlider blinzeln hektisch und unkontrolliert.
    «Ihr spielts doch normalerweise mit dem Pokorny?», hakt jetzt der Lemming nach.
    «Ja, das ist richtig.» Arno Murauer hat sich umgedreht und sieht den Lemming an. «Normalerweise schon. Aber heute   … Der Pepi ist heut leider nicht gekommen   … Es ist   … eine Scheiße.»
    «So eine Scheiße   …», stößt nun auch Florian Hörtnagl hervor. Er setzt sich in Bewegung, ansatzlos, und hastet aus dem Raum.
    «Bleib stehen!», erdröhnt im selben Augenblick die Stimme Bernhard Putzers. «Wohin?» Der Hüne ist auf dem Absatz herumgewirbelt, schon im Begriff, dem kleinen Hörtnagl nachzulaufen. Murauer hält ihn zurück.
    «Der geht nur aufs Häusel   …», brummt er mürrisch und wendet sich wieder den Bildern zu.
    «Ja also   … War nett, mit Ihnen zu plaudern   …», meint nach einer Weile der Lemming, doch seine Worte verhallen scheinbar ungehört: Keiner der drei nimmt noch weiter Notiz von ihm. Und so tritt er schließlich den Rückzug an, um Florian Hörtnagl auf dem Klo zu besuchen.
     
    Verhalten, gedämpft dringt das Schluchzen aus einer der geschlossenen Kabinentüren. Ab und zu lässt sich ein leises, stöhnend hervorgepresstes «Scheiße   …» vernehmen – ein Kommentar, der dem äußeren Rahmen nur scheinbar entspricht: Florian Hörtnagl kackt nicht, er weint.
    Ratlos lauscht der Lemming an der Tür, hebt dann die Hand, um zu klopfen.
    «Hallo? Herr Hörtnagl?»
    «Schleichts euch doch! Lassts mich in Ruhe!», kreischt es ihm unverzüglich entgegen. Ein harter, wutentbrannter Schlag von innen an das Türblatt, und der Lemming weicht zurück.
    «Hören Sie   … Es tut mir Leid, wenn ich Sie störe, aber   … Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?»
    Stille. Dann das prägnante Geräusch eines Klopapierhalters, ein Klappern, Reißen und Rascheln, dem kurz darauf ein lautes Schnauben folgt.
    «Wer sind Sie?», fragt Hörtnagl schließlich leise. «Was wollen Sie von mir?»
    «Ich würde gern wissen   … Sagen Sie, möchten S’ nicht vielleicht herauskommen? Das ist schon ein bisserl komisch, so durch die Klotür   …»
    Es dauert ein wenig, bis aus der Kabine die zögernde Antwort dringt.
    «Nein   … Ich komm da nicht raus   …»
    «Auch gut   …» Der Lemming seufzt. «Kann ich vielleicht irgendetwas für Sie tun? Was ist denn los mit Ihnen?»
    «Nichts. Nur etwas Privates   …», murmelt Hörtnagl. «Jetzt sagen Sie schon, wer Sie sind, oder lassen S’ mich endlich zufrieden.»
    «In Ordnung, also   … Ich bin auf der Suche nach dem Pepi, nach dem Pokorny.»
    «Warum?» Die Frage kommt wie aus der Pistole geschossen. «Was wollen Sie von ihm?»
    «Das hätte ich eigentlich gerne   … von Ihnen gewusst.»
    Leise rauscht es in den Leitungen der Pissoirs. Aus dem Waschbecken hinter dem Lemming tönt das stetige Tropfen des Wasserhahns.
    «Wieso   … von mir?» Es ist fast nur ein Flüstern. «Wieso   …»
    «Weil   … Hören Sie, Herr Hörtnagl, ich will nicht lang drum herumreden, also   … Ihr Vater hat mich beauftragt. Die Sache scheint ihm wahnsinnig wichtig zu sein. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie mir   …»
    Der Lemming verstummt. Hebt langsam den Kopf und lauscht. Etwas ist nicht, wie es sein sollte, etwas in seinem Rücken, eine kleine akustische Veränderung nur: der Wasserhahn. Er hat zu tropfen aufgehört   …
    Es gibt solche Augenblicke. Momente, in denen alles zugleich passiert, Momente, in denen es plötzlich zu Massenkarambolagen auf jener transzendentalen, aus Schicksal, Zeit und Raum gepflasterten Autobahn kommt, die sich Leben nennt. Hinter dem Lemming steht, die klobige Hand auf dem Wasserhahn, Bernhard Putzer. Vor dem Lemming wird der Riegel der Kabine aufgestoßen: Der junge Hörtnagl taumelt heraus, die Augen verquollen und glasig: ein einziges rotes Entsetzen.
    «Drecksau!», stößt er

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