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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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eines Baums, aber ohne die tröstliche Aussicht, als Schmetterling aus diesem Albtraum zu schlüpfen   …
    «Hören Sie mir bitte zu, Herr Hörtnagl   …» Wie aus weiter Ferne vernimmt der Lemming seine eigene, angstvoll vibrierende Stimme. «Ich mach Ihnen einen Vorschlag: Wir warten einfach so, bis uns die Feuerwehr hier herunterholt. Ich weiß nicht, was mit Ihnen los ist, ich weiß nicht, ob oder was Sie angestellt haben, aber so schlimm kann es gar nicht gewesen sein   … Das ist es einfach nicht wert   …»
    Und wieder ein Windhauch. Mit leisem Quietschen setzt sich das Gestänge in Bewegung, gleitet über das
Kleine Café
bis zur Weihburggasse, kommt kurz zur Ruhe und schwenkt gleich darauf gemächlich zurück.
    «Ja   … Sie haben Recht   … Ich hab etwas angestellt   …»
    Mit einem Mal klingt Florian Hörtnagls Stimme ganz ruhig. So ruhig, dass der Lemming trotz seiner Furcht, trotz seiner widerspenstigen Nackenmuskeln den Kopf hebt.
    «Ja   … Ich bin schuld   … Und trotzdem bin ich’s nicht gewesen   …»
    Florian Hörtnagl hat sich halb aufgerichtet; er kniet nun, dem Lemming zugewandt, auf der Spitze des Schwenkarms. Hinter ihm flimmern die Lichter des zweiten Bezirks, das festlich bestrahlte Riesenrad umrahmt die Silhouette seines Kopfes wie eine schüttere Gloriole.
    «Ich weiß nicht, wer alles zerstört hat. Ich weiß es nicht   … Dabei wär es so   … so eine runde Sache geworden. Etwas, das man noch seinen Enkeln erzählen kann   … Aber dann   … Der miese Verrat, das plötzliche Misstrauen zwischen uns, der Hass   … So rasch geht die Freundschaft zum Teufel   … Ich hab das alles nicht mehr ausgehalten: den Druck, die Angst, die Vorwürfe. Und ja, ich hab’s meinem Vater gebeichtet   … Die alte Drecksau, diese Chance hätt ich ihm nicht geben dürfen. Nie im Leben. Nein, ich hätt es besser wissen müssen. Das war doch von vornherein klar, dass der Sauhund wieder seine Ränke schmieden wird, um seine eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen   … Immer wieder hab ich ihm gesagt, er soll sich da nicht einmischen. Dass ich nur
einmal
ein offenes Ohr bei ihm finden wollte, so etwas wie   … Väterlichkeit. Beschworen hab ich ihn   … Und was macht er? Er schickt seine Häscher los. Hetzt seine dreckigen Bluthunde auf den Pokorny   … Ausgerechnet auf den Pokorny   …»
    Hörtnagl verstummt. Er beugt sich vor, stützt sich an einem der Träger ab und richtet sich langsam zu seiner vollen, kleinen Größe auf.
    «Nicht   …», flüstert der Lemming. «Tu’s nicht, Florian, bitte   …»
    Kurz herrscht Stille über den Dächern von Wien. Dann aber hebt ein leiser, ein sanfter Gesang an und tönt durch die Nacht: «Sie können im Wasser nicht leben, sich nicht in die Lüfte erheben, also stehen sie an Land im Kellnergewand, um in himmlischen Träumen zu schweben   …»
    Die Arme eng an den Körper gezogen, kippt Florian Hörtnagl nach hinten und verschwindet lautlos im Abgrund. Der Arm des Krans wippt noch ein wenig nach, dann dringt ein dumpfer Schlag aus der Tiefe. Das Raunen, den Aufschrei der Menge nimmt der Lemming nicht mehr wahr. Er klammert sich an das Gestänge, während seine Eingeweide Walzer tanzen: Wie jede menschliche Tätigkeit ist auch das Essen immer mit Gefahr verbunden, selbst dann, wenn es nur aus einer Hand voll Erdnüssen besteht. Und so schickt der Lemming dem kleinen Florian einen rauschenden, glitzernden Schwall von Erbrochenem nach   …

19
    «Wie sie entsteht, die Kunst? Was das überhaupt sein soll: die Kunst? Eine Einflüsterung, das ist sie. Etwas, das von außen kommt, von oben, von der Natur – von Gott, wenn du so willst. Etwas, das dich durchströmt und Wirklichkeit wird, obwohl es schon lang vor dir da war: latent vorhanden, aber trotzdem unsichtbar. Wie bei einem Radioapparat, in dem ja auch kein winziges Orchester spielt. Wenn also der Baum aus der Erde wächst, ist’s keine Kunst. Aber wenn er aus deinem Geist wächst   …
    Die Menschen sind schon seltsame Tiere: Sie sind immer auf der Suche nach der großen Sensation. Damen ohne Unterleib, Schafe mit zwei Köpfen, Zwerge, Riesen und siamesische Zwillinge: Für derlei haben die Leute schon immer gern Eintritt gezahlt. Wo sich das Dasein selbst ein Schnippchen schlägt, da erstarrt das Publikum in wohligem Schaudern, da geht ein ergriffenes Raunen durch die Menge, weil sie glaubt, einen Blick über die Grenzen der Schöpfung getan zu haben. Es gibt sie

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