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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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nicht mit deinem kleinen Versprechen zu tun hat!»
    «Was   … Was heißt   … um’bracht? Das soll doch   … ein Unfall g’wesen sein   …»
    «Nein! Verdammt, nein! Er hat sich   … hat sich   … Ich war doch dabei!»
    Das Unwetter scheint sich langsam zu entfernen, die Donnerschläge rollen nun leise und dumpf, so, als habe sich der ungebändigte Zorn der Götter in brummigen Missmut verwandelt. Auch der Regen hat inzwischen nachgelassen, eintönig klopft er gegen das Fenster. Pokorny ist auf seinem Stuhl zusammengesunken, das Gesicht in den Händen vergraben. Die grauen, halblangen Haare hängen ihm über die Finger; oben am Scheitel schimmert ein helles Stück Kopfhaut durch. Pokorny zittert. Zittert ganz leise, beinahe unmerklich. Pokorny bietet ein einziges Bild des Jammers.
    Hin- und hergerissen ist jetzt der Lemming; die Entscheidung zwischen Mitleid und Härte fällt ihm schwer. Und sowählt er schließlich einen Mittelweg: Er kleidet die nächste Unglücksbotschaft in Samt.
    «Abgesehen davon», meint er leise und legt Pokorny tröstend die Hand auf die Schulter, «tät ich gern wissen, ob du seit Samstag schon in deiner Wohnung warst   …»
    «Nein   …» Pokornys Augen schimmern, als er den Kopf hebt, um den Lemming anzusehen. «Warum?»
    «Weil   … Na, weil   … bei dir eingebrochen worden ist. Alles verwüstet, von oben bis unten   … Tut mir Leid   …»
    «Verstehe   … Ich hab schon so was geahnt   … Aber weißt du, Dinge lassen sich reparieren   … Warst du ’leicht bei mir?»
    «Ja. Vorgestern.»
    «Auch oben, in der Hütte?»
    Der Lemming nickt.
    «Und   … Haben die wenigstens den Riedmüller verschont?»
    «Leider nein. Weder den Riedmüller noch sein Gemälde   … Und dann die Möbel, die Wände, dein Bettzeug: alles kaputt. Sogar dein   …»
    Ein Ruck geht durch den Lemming, er verstummt. Zieht seine Hand von Pokornys Schulter zurück. Die Hütte, denkt er, die Terrasse   … Klar und deutlich steht ihm jetzt das Bild der Zerstörung vor Augen: ein zerwühltes Bett, zwei aufgeschlitzte Kissen. Dahinter die zertrümmerte Scheibe des Pavillons. Draußen aber, im Freien, auf dem Kiesweg des Dachgartens   …
    «Pokorny?»
    «Ja   …»
    «Sag, hast du eigentlich zwei Akkordeons?»
    «Nein   … Warum?»
    Der Lemming wirbelt herum. Durchquert mit wenigen Schritten den Raum, bis er vor Pokornys schwarzem Instrumentenkoffer steht.
    «Nein! Nicht, Wallisch, ich bitt dich! In deinem eigenen Interesse!»
    Schon ist Pokorny hinter dem Lemming. Packt seine Arme, versucht, ihn zurückzuziehen. Vergeblich: Der Lemming schüttelt ihn ab und streckt seine Hand nach dem Griff des Koffers aus.
    «Verflucht, Wallisch! Du Dickschädel!» Pokorny stampft auf. «Du Hund, du verbohrter! So lass mich doch wenigstens   … Ich zeig’s dir ja, du sturer Bock! Ich zeig’s dir ja   …» Er schiebt sich am Lemming vorbei, hebt den Koffer vorsichtig hoch und trägt ihn zum Schreibtisch. Mit beiden Händen stellt er ihn jetzt auf der Tischplatte ab: Behutsam sind seine Bewegungen, auffallend langsam wie die jener klassischen Leinwandhelden, die sich nie zwischen rotem und grünem Draht entscheiden können, bevor die Zünduhr auf null-null-sieben steht   …
    «Setz dich   …» Pokorny wendet sich um und deutet auf einen der Stühle. «Glaub mir, es ist besser, wenn du sitzt   … Ich werd dir gleich eine Geschichte erzählen – eigentlich sind es ja vier Geschichten   …»
    Er lässt die zwei silbernen Schnallen des Koffers aufschnappen, klappt dann den Deckel hoch. Zunächst kann der Lemming nichts Außergewöhnliches entdecken: Ein Berg von Lumpen türmt sich vor ihm auf, Tücher, Socken und Unterhosen, zwischen denen große Wattebäusche hervorquellen. Mit wenigen Griffen räumt Pokorny die Wäsche beiseite.
    «Damit du die Sache verstehst, muss ich ganz am Anfang beginnen   …»
    Ja, es ist gut, dass der Lemming sitzt.
    Er kann es nicht glauben.
    Er kann es nicht glauben, was er da sieht   …

23
    «Verstehst du jetzt, Wallisch? Der Bär, der Adler und die Löwin haben ihre Triumphe gefeiert, jeder auf seine Weise. Da hat sich der Floh natürlich im Hintertreffengefühlt. Aber dann, vor drei Monaten, war die Reihe an ihm   …
    Weißt du, was der Thomas Mann gesagt hat?
Ein Künstler
, hat er gesagt,
muss in derselben Verfassung an sein Werk gehen, in der ein Verbrecher seine Tat begeht
. Der gute Mann war aber nicht der Einzige, der das erkannt hat. Edgar

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