Das Schweigen des Lemming
weiter …›
Hundertsechs Fehlalarme, da vergeht einem wirklich die Lust. Nicht einmal ich tät viermal pro Nacht hinüber zu den Bisons latschen oder zum Tirolerhof hinauf, nur weil die Technik wieder einmal spinnt. Und das immer wieder von neuem, Woche für Woche, zusätzlich zu den normalen Kontrollgängen alle zwei Stunden. Da kann man den Kollegen von der Kunst keinen Vorwurf machen, da müssen wir schon zusammenhalten, wir Nachtwächter …
Der Adler, der Floh und die Löwin haben ihm jedenfalls zugehört, dem Bären. Der Adler und die Löwin amüsiert, der Floh mehr interessiert. Irgendwann hat dann der Floh den Bären unterbrochen.
‹Sag, ist das Kunsthistorische nicht gerade eingerüstet?›
Allerdings war es das: Die ganze südwestliche Front des Museums ist zu dem Zeitpunkt renoviert worden und auch die Rückseite in der Babenbergerstraße. Eingerüstet bis oben, und – zu allem Überfluss – mit dem perfekten Sichtschutzversehen, mit einer riesigen Werbefläche nämlich. Kurz gesagt: eine in Gold gefasste Einladungskarte, ein breiter roter Teppich für jeden Fassadenkletterer. Der Cary Grant hätt sich über den Dächern von Nizza zu Tode gelangweilt bei solchen Bedingungen …
Obwohl ihn erst der Bär darauf gebracht hat, ist also die ganze Idee auf dem Mist vom Floh gewachsen.
‹Was haltet ihr davon›, hat er gemeint, ‹wenn wir uns eines von den Bildern holen? Und dann … Dann hängen wir’s ganz woanders auf. Im Akademietheater zum Beispiel; stellt euch vor, der Adler könnt’s kurz vor einer Vorstellung auf die Bühne schmuggeln …›
Am Anfang hat sein Einfall keine Begeisterungsstürme entfacht. Ob er von allen guten Geistern verlassen ist, hat ihn die Löwin gefragt. Ob er allen Ernstes mit einem großformatigen Raffael durch Wien spazieren will oder ob sie ihn vielleicht gar aus dem Rahmen schneiden sollen. ‹Super›, ist ihr der Adler ins Wort gefallen, ‹toller Plan: Wir holen uns mit dem Stanleymesser ein Stückerl von der
Madonna im Grünen
ab: Schätzwert an die achtzig Millionen – jedenfalls jetzt noch … Nachher nicht mehr …›
Nur der Bär hat nichts gesagt. Er ist still und in sich gekehrt dagesessen, bis ihn die Löwin nach seiner Meinung gefragt hat.
‹Es muss ja kein Bild sein …›, hat er daraufhin gebrummt. ‹Wir haben momentan auch ein paar hübsche kleine Kostbarkeiten im Sortiment, von der Schatzkammer drüben in der Hofburg; die wird nämlich auch gerade hergerichtet …›
Zwei Tage später sind die vier ins Kunsthistorische gegangen, um die Lage zu sondieren. Und oben, im ersten Stock der Gemäldegalerie, haben sie es gefunden: das perfekte Objekt, eine kleine, goldene Skulptur, wie maßgeschneidert für einen harmlosen Schelmenstreich …
Ein Schelm ist schließlich auch der Schöpfer dieses handlichenObjekts gewesen. Mehr noch: ein Gauner, ein Wüstling, ein Dieb und ein Mörder. Raffiniert, gewitzt und virtuos, aber auch cholerisch, rachsüchtig, habgierig bis zum Exzess. Er ist wiederholt im Gefängnis gesessen, der Benvenuto Cellini, immer wieder hat man ihn gejagt, in den Kerker geworfen, ja einmal sogar zum Tod verurteilt. Und jedes Mal aufs Neue ist es ihm gelungen, sich aus dem Schlamassel herauszulavieren. Wie? Ganz einfach: mit seiner Kunst. Kunst für Gunst sozusagen: Die Gunst der Päpste und Könige hat ihm den Arsch und das Leben gerettet.
Wenn man sich seine Werke so ansieht, versteht man auch, warum. Verspielt, affektiert, überfeinert, ja man könnt sie fast kitschig nennen. Und deshalb auch völlig dem höfischen Trend seiner Zeit angepasst, dem Gout der parfümierten Herren und gepuderten Damen. Der Cellini war ein Karrierist, er hat sich mit Haut und Haaren dem Applaus der Mächtigen verschrieben. Künstlerisch fragwürdig, ganz ohne Zweifel, aber technisch und formal von beispielloser Brillanz. Der Mann, der die Memoiren vom Cellini ins Deutsche übersetzt hat, der gute alte Goethe nämlich, hat es sehr dezent formuliert:
Seine Bildung
, hat er geschrieben,
ging vom Einzelnen aus, und bei seiner großen, puren Sinnlichkeit wäre es ein Wunder gewesen, wenn er sich durch Reflexion hätte zum Ganzen erheben wollen
…
Kein sehr angenehmer Zeitgenosse also, der Herr Benvenuto. Glaube ich jedenfalls. Und man könnte fast meinen, er hat es selbst gewusst. Im Alter von zweiundsechzig hat er beschlossen, Mönch zu werden, um, wie es heißt, seine Leidenschaften zu bändigen. Netter Versuch für
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