Das Schweigen des Lemming
Republik, das Salzfass der Nation: die Saliera. Und sie ist nicht einmal so groß wie eine dieser alten Küchenwaagen. Ein ovaler Sockel aus Ebenholz, mit Gold und Email verziert, nein, derartig strotzend vor Zierrat, dass die Augen schon vom ersten Anblick übersättigt sind: Pferde, Delphine und andere Tiere, ein grässlich verschnörkeltes Schiff als Salzgefäß, für den Pfeffer ein opulent geschmückter Tempel, auf dem sich eine winzige, unbekleidete Frau räkelt. Und aus diesem wuchernden Urwald an Formen ragen die beiden Hauptdarsteller heraus: zwei nackte, handspannengroße Figuren, ein Mann und eine Frau, die einander – ein wenig gelangweilt – gegenübersitzen. Das Meer und die Erde – Salz und Pfeffer eben …
Natürlich kennt der Lemming die Statuette von Fotografien. Nach dem Diebstahl im Mai ist sie auf allen Titelseiten zu bewundern gewesen. Der Lemming aber hat sie nicht bewundert, ganz im Gegenteil: Der mediale Aufschrei ist ihm mehr als übertrieben vorgekommen. So überladen, so lächerlich manieriert hat er die Saliera gefunden, er hätte sie nicht geschenkt haben wollen …
Jetzt aber sitzt er, stumm und ergriffen, und streichelt das Salzfass, als wär’s ein zerbrechlicher Säugling …
«Der Nimbus der Dinge …», flüstert in seinem Rücken Pokorny, «der göttliche Abglanz, der Mythos … Schau sie dir an, Wallisch: Sie ist der Fleisch gewordene Geist einer lange vergangenen Zeit …»
Der Lemming reagiert nicht. Er streichelt und schweigt.
«Das Wertvolle sind nie die Dinge selbst», fährt Pokorny leise fort, «es ist immer die Aura, die sie umgibt … Der Heilige Gral? Ein Häferl, ein einfacher Becher. Die Bundeslade? Eine nebbiche Schachtel, zusammengezimmert aus schlichtem Akazienholz. Das Turiner Grabtuch? Ein alter, vergammelter Fetzen. Die Mona Lisa? Das Frühstück im Grünen? Die Nachtwache? Öl auf Leinwand, wie’s ja meistens auch darunter steht. Du kannst alles fälschen, Wallisch, du kannst alles punktgenau kopieren, aber die magische Kraft, die manche Dinge unbezahlbar macht, steckt weder in der Form noch in der Farbe oder gar im Material. Es ist ein Fluidum, das nur in deinem Kopf entsteht, ein Gedankenkonstrukt aus äußerem Dasein und innerem Glauben … Was meinst du, wie viel ist ein Schamhaar wert? Nichts? Und wenn es vom Casanova stammt? Ein Eckzahn vom Wolferl Mozart? Napoleons Schnürsenkel? Ein Stück Berliner Mauer? Hitlers Tagebücher? Des Pudels Kern? Souvenirs, Wallisch, Souvenirs. Der Nimbus der Dinge … So wie das, was du da grad begrapschst: ein heiliges Original, das Vermächtnis einer kunsthistorischen Legende. Cellini hat es nicht nur in der Hand gehalten, nein, er hat es ersonnen, geboren, erschaffen. Er hat es aus Goldblech und Wachs geformt, über Wochen, Monate, Jahre. Er hat darauf geschwitzt, geniest, gesabbert und vielleicht sogar …»
«Vielleicht sogar was?»
Der Lemming zieht die Hand zurück, mit einem Schlag aus seiner Trance, aus seiner Reise in die Renaissance gerissen.
«Nicht so wichtig …», grinst Pokorny. «Ich hab nur grad an unseren Freund Riedmüller gedacht … Schöpfungsrausch gewissermaßen …»
«Schöpfungsrausch … Aha …»
Der Lemming dreht sich um und sieht Pokorny fragend an. Doch mehr als Riedmüllers musische Spritztouren bewegen ihn andere Fragen. Viele, zu viele Fragen. Sie stehen einanderim Weg, behindern einander wie die Körner einer stecken gebliebenen Sanduhr. Da nutzt es nichts, sie zu ordnen. Man muss sie schütteln, durcheinander wirbeln und ganz von vorne beginnen …
«Wie, Pokorny, wie um alles in der Welt, wie, zum dreimal verschissenen … Teufel … kommt dieses Ding hierher?»
«Tja …» Pokornys Grinsen erstirbt. Er zuckt mit den Schultern und reibt sich verlegen die Nase. «Tja … Der Adler, die Löwin, der Bär und der Floh sind sozusagen … Freunde von mir …»
«Bis auf den Floh», unterbricht ihn der Lemming mit grimmigem Nicken. Pokorny stutzt.
«Schau, ich mag ja nicht immer der Vifste sein, aber für dieses kleine Wortspiel muss man nicht grad den Nobelpreis gewonnen haben. Besonders wenn man sie kennt, die vier. Wenn man ihnen schon begegnet ist. Adler wie Arno, Löwin wie Leonie, Bär wie Bernhard und … Na, beim Floh habts ihr ein bissel geschludert, den Florian Hörtnagl hättets ihr eigentlich … Pflanzerl nennen müssen …»
«Fast, Wallisch, fast … Eigentlich heißt’s ja
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