Das Schweigen des Lemming
einen, der mit vierundvierzig eine Fünfzehnjährige schwängert und sie dann mit herzlichem Dank an ihre Familie retourniert. Netter Versuch. Nur leider einer, der im wahrsten Sinn des Wortes in die Hose ging. Es hat ihn nämlich schon nach kurzer Zeit von der Klerikalen in die Horizontale zurückgezogen: Seine große, pureSinnlichkeit hat ihm nach diesem kirchlichen Seitensprung noch drei Kinder beschert, zusätzlich zu den beiden, die er schon vorher in die Welt gesprüht hat.
Wie auch immer. Cellinis Untaten sind ja schon lange verjährt; er ist seit über vierhundert Jahren tot. Was ihn überlebt, sind die wenigen noch existierenden Werke aus seiner Hand. Was ihn überlebt, ist der Mythos, der Abglanz eines verruchten Genies. Und den größten Glanz von allen verströmt seine einzig erhaltene Goldschmiedearbeit: das legendäre Salzfass, das er für König Franz den Ersten erschaffen hat …
Am Ende war alles noch viel einfacher, als sich die vier das ausgemalt haben. Und der Zeitpunkt, das muss man ihm lassen, dem Floh, der Zeitpunkt war perfekt gewählt. Eine Nacht von Samstag auf Sonntag, eine lange, laue Frühlingsnacht. Und noch dazu die lange Nacht der Musik.
Diese so genannten
Langen Nächte
sind ja erst in den letzten Jahren so richtig bei uns aufgekommen: Es gibt die lange Nacht der Museen, die lange Nacht der Kirchen, die lange Nacht der Sterne, der Technik, des Kabaretts und so weiter. Fehlt noch die lange Nacht der Toiletten oder der Friedhöfe … Wenn Mutter Fadesse und Vater Herdentrieb Nachwuchs bekommen, heißt er
Eventkultur
: Ein Theater- oder Konzertbesuch genügt den Leuten nicht mehr. Wie die Heuschrecken müssen sie durch die Straßen fluten, von einer
Location
zur nächsten hetzen, scheinbar willentlich und trotzdem ferngesteuert: Was für ein Spaß, nein, was für ein
Fun
– ein großer, gemeinsamer, einsamer
Fun
…
Aber bitte, jeder, wie er glaubt … Im Kunsthistorischen hat’s an diesem Samstagabend jedenfalls ein Jazzkonzert gegeben. Und gegenüber, im Museumsquartier, hat auch eine ganze Reihe von Veranstaltungen stattgefunden. Man kann sich vorstellen, was da los war, ein ganz schöner Trubel, und man kann sich auch vorstellen, wie erschöpft das verantwortliche Personal gewesen ist, als die letzten Besucher das Museumverlassen haben. Vor allem natürlich das Wachpersonal. Gegen zwei sind die Läden dichtgemacht worden, langsam ist Ruhe eingekehrt.
Kurz vor vier hat der Bär den Zugang zum Baugerüst aufgebrochen: eine Brettertür, gesichert mit einem simplen Vorhängeschloss. Er und der Adler sind hinauf in den ersten Stock geklettert – ursprünglich hätt ja der Floh gehen sollen, als Pate der ganzen Aktion, aber die Nerven … Der Floh ist in der Hinsicht nie sehr belastbar gewesen. Also ist er mit der Löwin unten geblieben, um Schmiere zu stehen.
Der Bär zertrümmert das Fenster, der Adler zerschneidet die Jalousie, der Bär steigt ein in den Raffaelsaal. Einige wenige Schritte nur, und er steht vor der gläsernen Glocke, unter der das Objekt der Begierde ruht. Ein kurzer, wohldosierter Schlag, der Bär hebt das Salzfass heraus, kehrt zum Fenster zurück; gemeinsam wickeln sie die Statue in ein paar weiche Stofflappen, verstauen sie in einem Plastiksack, den der Adler vorsichtig an sich nimmt. Fertig. Die beiden machen sich auf den Rückweg.
Ein Stemmeisen, ein Messer und knappe fünf Minuten Zeit: Mehr haben sie nicht gebraucht, um einen der wertvollsten Kunstschätze Österreichs zu stehlen …»
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Langsam die Hand ausstrecken, den Zeigefinger. Ihn – Millimeter nur vor dem seidig schimmernden Schmelz – in der Luft verharren lassen wie einen Kolibri vor dem geöffneten Blütenkelch. Ihn wieder zurückziehen, ein winziges Stück nur, zaghaft und ängstlich, dann aber doch noch der Neugier erliegen: ein weiterer, zögernder Vorstoß … Kontakt.
Der Lemming erschaudert.
Warm fühlt sie sich an, die Skulptur. Gar nicht metallisch,sondern eher … Ja, beinahe wie eine dieser ergonomischen Computermäuse aus geheimen Kunststoffrezepturen. Glatt und samtig, hart und anschmiegsam zugleich. Behutsam lässt der Lemming seinen Finger über die Konturen wandern, streicht den nackten Körper der goldenen Frau entlang, den schlanken Hals bis zur Brust, die sie ja selbst lasziv mit ihrer linken Hand berührt, dann tiefer, die sanfte Wölbung des Bauchs hinab bis zu den Beinen …
Da steht es nun also, das meistgesuchte Kunstobjekt der
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