Das Schweigen des Lemming
drehen, die ihn durch das gesamte Gelände des Tiergartens führt: Vom Wirtschaftshof bis zu den Sumpfbibern ist eine Vielzahl elektronischer Stechuhren angebracht, die dazu dienen, den vorschriftsgemäßen Verlauf der Inspektionstouren zu quittieren und zu dokumentieren. Kontrolle braucht Kontrolle, und so steht an der Spitze der Wachhierarchie das loyalste, das unbestechlichste aller Kontrollorgane: die Maschine. Bis der letzte dieser reputablen Apparate bedient ist, dauert es natürlich seine Zeit: zu Fuß gut eineinhalb Stunden, mit dem Wagen knapp die Hälfte.
Der Lemming wollte ja lieber zu Fuß gehen, aber Pokorny hat sich vehement dagegen ausgesprochen: Er sei ein Kind der Stadt, hat er gebrummt, und dazu noch ein alter, gebrechlicher Mann, der für solche Spaziergänge nicht mehr zu haben sei. Ganz abgesehen davon, dass die Saliera nicht nur fünfzig Millionen, sondern auch vierzehn Kilo wiege, zu viel also, um als Marschgepäck durch die Natur geschleppt zu werden. Den Vorschlag des Lemming, die Skulptur doch einfach im Wärterhäuschen zu lassen, hat Pokorny ebenfalls zurückgewiesen. Ein kurzes, bestimmtes «Nicht sicher genug …», und die Idee war ad acta gelegt. Schließlich hat der Lemming noch gemeint, dass sich ja einer allein auf den Weg machen könnte, doch auch hier hat Pokorny Einspruch erhoben: «Erstens», hat er gesagt, «bist du mir noch deine Geschichte schuldig, und zweitens lass ich dich nicht mit dem Salzfass allein, ehe erstens erledigt ist. Also: Du fährst, und ich geb auf den Koffer Acht …»
Und da hat Pokorny dann endlich den Kürzeren gezogen. Der Lemming hat trotzig den Kopf geschüttelt. Hat den Koffer gepackt und den Beifahrersitz okkupiert, so wie mancheältere Damen, wenn sie am Muttertag von ihren Söhnen aus dem Heim geholt werden.
Kurz vor neun ist es jetzt; der Lemming und Pokorny haben den Großteil der Tour absolviert. Schweigend allerdings, in Gedanken versunken, so sind sie durch die Abenddämmerung gefahren. Jetzt erst, auf dem Rückweg, knüpft Pokorny wieder da an, wo der Faden eine halbe Stunde vorher abgerissen ist.
«Wer von den vieren?», meint er, ohne den Blick vom Asphalt zu wenden. «Wer, glaubst du, ist es gewesen?»
«Ich kann dir nur sagen, wer’s nicht gewesen ist …», erwidert nach einer Weile der Lemming. «Nämlich der Floh, da bin ich mir absolut sicher …»
«Ich weiß nicht … Ich weiß schon gar nichts mehr. Warum grad der Floh? Nur weil er sich … Weil er … vom Kran gefallen ist?»
«Nein. Sondern weil er die G’schicht seinem Alten gebeichtet hat – Herrschaftsseiten, Pepi! Pass doch auf!»
Für einen Moment ist der Wagen ins Schlingern geraten, hat sich der steinernen Brüstung des Nilpferdbeckens gefährlich genähert. Pokorny tritt auf die Bremse: ein Ruck, und sie kommen zum Stillstand.
«Was soll das heißen … Er hat’s seinem Alten gebeichtet?»
«Seinem Vater. Er hat ihm sein Herz ausgeschüttet, der Bub, irgendwann am Samstag in der Früh wahrscheinlich, also kurz nachdem die vier ihren Schatz bei dir deponiert haben. Jedenfalls hat er mir das erzählt, da oben auf dem gottverdammten Kran. Und ich wüsst nicht, warum einer noch lügen sollt, wenn er sich schon im nächsten Moment … Also wenn er sich gleich darauf für immer verabschiedet. Ja, er hat sich dem alten Hörtnagl anvertraut, weil er die ganze Sache nicht mehr ausgehalten hat. Wie du schon gesagt hast: Er dürft nicht unbedingt der Coolste von den vieren gewesen sein. Was er mit seinem Geständnis bezweckt hat? Ein offenesOhr, ein tröstendes Wort wollt er haben, sonst nichts. Seine Freunde sind ihm über Nacht abhanden gekommen, und für ihn allein war die Bürde zu groß. Bei dir hat er sich auch nicht ausweinen können; du bist ja von den vieren zum Unparteiischen ernannt worden, und ein Schiedsrichter ist, wie wir wissen, kein Trainer. Also klopft er bei seinem Erzeuger an und legt die Karten auf den Tisch. Blatt für Blatt, haarklein und punktgenau. Bis zu dem kleinen, pikanten Detail, dass sich das Diebsgut jetzt in Händen eines gewissen Herrn Josef Pokorny befindet, seines Zeichens Nachtwächter im Schönbrunner Tiergarten … Verstehst du, Pepi, er hat nicht darauf spekuliert, dass ihm’s der Papa schon richten wird, das war nicht der Grund. Er wollt euch nicht verraten, dich am allerwenigsten. Im Gegenteil: Er wollt nur ein bissel moralische Rückendeckung, um die Sache noch weiter ertragen zu können. Aber
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