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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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geblieben ist   … Es war entsetzlich, Wallisch, es war grauenhaft. Du hast sie ja kennen gelernt, aber   … Du hast sie eben nicht wirklich kennen gelernt. Nicht so, wie sie vorher waren: frech, unbeschwert, einträchtig, warmherzig. Ein verschworener, unzertrennlicher Haufen. Und dann, am Freitag   … Unzertrennlich, ja, so haben sie nach wie vor gewirkt, aber aus vollkommen anderen Gründen. Sie haben sich nicht aus den Augen gelassen, sie haben einander belauert, skeptisch und feindselig. Als wär ein böser Geist in sie gefahren, als hätten sie alle vom selben Gift getrunken, von einer Brühe aus Abscheu und Hass. Mit einem Fingerschnippen ist die jahrelange Freundschaft in Kälte umgeschlagen, und – nebenbei – nicht nur die Freundschaft: Der Adler und die Löwin haben   … Na, sie waren halt zusammen, wie man das so unverbindlich zu bezeichnen pflegt. Dass der Bär, glaub ich, insgeheim auch auf die Löwin gespitzt hat, war nie ein Problem; die Freundschaft mit dem Adler ist ihm eben wichtiger gewesen   … Aber egal, aus und vorbei: Der Verrat hat alles zunichte gemacht   …»
    Pokorny stützt sich am Schreibtisch ab und schüttelt resigniert den Kopf.
    «Ich hab nicht viel für sie tun können. Leider. Keiner hat die Sache zugegeben, im Gegenteil: Alle haben standhaft geleugnet, jeder hat die anderen verdächtigt   …»
    «Warum», fragt der Lemming, «habt ihr das Ding dann nicht einfach zurückgegeben?»
    «Weil’s dafür zu spät war. So seltsam es klingt, aber die plötzliche Feindschaft hat die vier noch mehr zusammengeschweißt.Sie waren sich darüber einig, dass der Verräter gefunden werden muss; und die einzige Chance dazu war es, die Dinge am Laufen zu halten. Stell dir vor, die Arche strandet, bevor sie untergeht: Die Passagiere gewinnen Land, zerstreuen sich und müssen fortan damit leben, dass ein Saboteur unter ihnen ist, einer, der bis in alle Ewigkeit unerkannt bleibt   …»
    «Da wollten sie lieber alle gemeinsam ertrinken?»
    «Es hat fast den Anschein gehabt. Nicht einmal der Florian hat widersprochen, er hat total gelähmt gewirkt, wie eine Schachfigur zwischen Patt und Matt   … Sie haben also beschlossen, das Salzfass an einem sicheren Ort zu deponieren, an einem Ort, zu dem sie einzeln keinen Zutritt hatten, sondern – ausnahmslos – nur alle vier gemeinsam.»
    «Bei dir. Bei ihrem Mediator.»
    «Ja, Wallisch. Bei mir. Glaub mir, ich hätt mir was Besseres gewusst, als mit einem Fünfzig-Millionen-Objekt durch die Gegend zu laufen, das die vereinigten Bullen der westlichen Hemisphäre zu wahren Stampeden anspornt   … Natürlich hab ich sie gefragt, ob sie jetzt endgültig den Verstand verloren haben, wie sie sich das vorstellen, ob ich mir das Trumm vielleicht in die Hosentasche stecken soll, wenn ich am Samstag in den Nachtdienst muss   … Aber am Schluss hab ich dann trotzdem ja gesagt. Mir ist ja selbst nichts G’scheiteres eingefallen   … Ich hab den Akkordeonkoffer geholt und die Saliera darin verstaut. Bis Dienstag und keinen Tag länger, das war die Bedingung. Gestern Abend, beim Riedmüller-Konzert, da hätt ich ihn ja gebraucht, den Koffer: So wertvoll das Ding da auch sein mag, aber musizieren kann man nicht darauf   …»
    Pokorny wendet sich zur Seite und greift zu dem kleinen Stofftier, dem malträtierten Pinguin, der unter der Schreibtischlampe liegt.
    «Am Samstagvormittag hab ich dann das hier vor meinerTür gefunden. Daneben einen Zettel mit einer maschinengeschriebenen Ziffernfolge darauf. Ein einfacher Quersummencode: Du nummerierst die Buchstaben von A bis Z und bildest dreistellige Zahlen daraus. Wenn man weiß, wie’s geht, hat man das in zwei Minuten entschlüsselt   …»
    «Theosophische Addition   …», meint der Lemming. Pokorny nickt ihm anerkennend zu.
    «Richtig, Wallisch. Kompliment   … Der Wortlaut auf dem Zettel war jedenfalls folgender:
Salz oder Tränen. Das Salzfass oder deine Tränen. Heute, Punkt siebzehn Uhr. Leg den Koffer in die Büsche rechts vom Aufgang zur Akademie. Und glaub nicht, du kannst fliegen, Pen Gwyn. Versuch es erst gar nicht
!
»
    Pokorny seufzt auf.
    «Zugegeben: Ich hab bis zu dem Zeitpunkt noch Hoffnung gehabt. Eine winzige Hoffnung, dass das Ganze vielleicht doch ein Missverständnis war. Dass dieser Erpresser jemand völlig anderer gewesen ist, irgendein Trittbrettfahrer, der seine Badewanne zertrümmert hat, um die Scherben dann an die Versicherung zu schicken. Aber leider. In dem

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