Das Schweigen des Sammlers
öffneten, wenn sie Soutane trugen. In Straßenkleidung konnten sie in alle Museen gehen, deren Besuch ihnen ihre priesterliche Würde verbot. Sie konnten auf der Piazza Colonna Kaffee trinken und, mehr noch, die Passanten beobachten, und zwei-, dreimal hatte Morlin ihn mit zu Leuten genommen, die er seiner Meinung nach kennenlernen sollte. Dort stellte er ihn als Felix Ardevole vor, einen klugen Kopf, der acht Sprachen beherrsche und jedes Manuskript enträtseln könne, und die Gelehrten öffneten ihm ihre Tresore, sodass er das Originalmanuskript der Mandragola in Augenschein nehmen konnte – eine Kostbarkeit – oder ein paar raschelnde Papyri, die von den Makabäern handelten. Aber heute, an dem Tag, an dem Europa Frieden schloss, schlich sich der gelehrte Fèlix Ardèvol davon, unbemerkt von den Aufpassern des Wohnheims und zum ersten Mal auch unbemerkt von seinen Freunden. In Pullover und Kappe, die seinen kirchlichen Stand verbargen, lief er schnurstracks zum Obstladen von Signor Amato und legte sich, die Schachtel in der Tasche, auf die Lauer, und die Stunden vergingen, und er sah die Leute unbesorgt und glücklich vorüberschlendern, weil sie nicht wie er am Fieber litten. Carolinas Mutter ging vorbei. Die kleine Schwester. Alle außer seiner Liebsten. Der gioiello , ein grob gearbeitetes Medaillon mit dem plumpen Bildnis einer romanischen Muttergottes neben einem gewaltigen Baum, vielleicht einer Tanne. Auf der Rückseite das Wort »Pardàc«. Aus Afrika? Ob das ein koptisches Medaillon war? Wieso habe ich sie Liebste genannt, wo ich doch gar kein Recht habe … und die frische Luft erschien ihm unerträglich schwül. Glocken begannen zu läuten, und Fèlix, der noch nicht Bescheid wusste, glaubte, sämtliche Kirchen Roms läuteten seiner heimlichen, sündigen Liebe zu Ehren.
Und dann erschien Carolina Amato. Sie war aus dem Hausgetreten, hatte mit wehendem Haar die Straße überquert und war direkt auf den wartenden Fèlix zugegangen, der doch geglaubt hatte, perfekt getarnt zu sein. Als sie vor ihm stand, sah sie ihn mit einem strahlenden Lächeln an, schwieg aber. Er schluckte, umklammerte die Schachtel in seiner Tasche, machte den Mund auf und sagte nichts.
»Ich auch«, sagte sie. Und viele Glockenschläge später: »Gefällt es dir?«
»Ich weiß nicht, ob ich es annehmen kann.«
»Der gioiello gehört mir. Onkel Sandro hat ihn mir bei meiner Geburt geschenkt, er hat ihn selbst aus Ägypten mitgebracht. Jetzt gehört er dir.«
»Was wird deine Familie dazu sagen?«
»Er gehört mir, und jetzt gehört er dir. Sie werden nichts sagen. Er ist mein Liebespfand.«
Sie nahm seine Hand und zog ihn fort bis zu einem verborgenen Winkel, der völlig verdreckt war, aber nach den Rosen der Liebe duftete, und führte ihn in ein verlassenes Haus, dessen Türen offen standen, während die Glocken läuteten und eine Nachbarin aus dem Fenster rief , Elisabetta, der Krieg ist aus! Aber die beiden Liebenden standen kurz vor ihrer entscheidenden Schlacht und hörten den Ausruf nicht.
II De pueritia
Ein guter Krieger kann sich nicht in alle Squaws verlieben, denen er begegnet, selbst wenn sie sich mit Kriegsbemalung schmücken.
SCHWARZER ADLER
3
Schau mich nicht so an. Ich weiß, dass ich mir viel ausdenke, aber ich sage trotzdem die Wahrheit. Eine meiner wohl frühesten Erinnerungen ist beispielsweise die an mein Kinderzimmer, wo ich versuchte, mich unter dem Bett häuslich einzurichten. Es war nicht ungemütlich, und es machte Spaß, nur Füße zu sehen, wenn jemand hereinkam und sagte, Adrià, Kind, wo bist du, oder Adrià, komm essen. Wo steckt er nur? Ja, es war ein Spaß für mich, denn Abwechslung gab es für mich wenig; mein Elternhaus war kein Haus für Kinder, und meine Familie war keine Familie für Kinder. Meine Mutter zählte nicht, und mein Vater lebte nur fürs Kaufen und Verkaufen, und ich verging vor Eifersucht, wenn ich ihn einen Stich oder eine feine Porzellanvase streicheln sah. Und Mutter … also, Mutter schien ständig auf der Hut zu sein, wie auf dem Sprung, die Augen überall. Und das, obwohl sie in Lola Xica eine Verbündete hatte. Inzwischen verstehe ich, dass mein Vater ihr das Gefühl gegeben haben muss, im eigenen Haus eine Fremde zu sein. Die Wohnung gehörte ihm, und er ließ sie gnädigerweise dort wohnen. Als mein Vater starb, konnte sie aufatmen, und ihre Augen waren nicht mehr so unruhig, auch wenn sie es weiterhin vermied, mich anzusehen. Und sie verwandelte
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