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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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eintrat. Während des Noviziats lernten wir unter der freundlichen Anleitung von Fra Anselm Copons, unser Herz gegen das menschliche Elend zu verhärten, denn jeder SS-Mann muss bereit sein, alles, was er ist und hat, dem Dienst am Führer zu opfern. Und wir Brüder vom Predigerorden haben eine wichtige Rolle bei der Ausmerzung der Gefahr von innen gespielt. Der wahre Glauben ist durch einen Ketzer tausend Mal mehr gefährdet als durch einen Ungläubigen. Der Ketzer hat die Lehren der Kirche mit der Muttermilch aufgesogen und lebt in ihr, verdirbt aber zugleich durch seine giftige, krankhafte Beschaffenheit die heiligen Elemente der frommen Institution. Die Endlösung des Problems, zu der man sich ab 1941 entschloss, sollte die Heilige Inquisition völlig stümperhaft aussehen lassen und die komplette Ausrottung aller Juden bewirken. Und wenn schon der Schrecken herrschte, dann sollte es unendlicher Schrecken sein. Und wenn es Grausamkeit gab, musste sie absolut sein, denn nun kam die Geschichte zu Wort. Natürlich erforderten ein so hochgestecktes Ziel, eine so wackere Tat wahre Helden mit eisernem Herzen und stählernem Willen. Und so machte ich mich als treuer und disziplinierter Dominikanerbruder ans Werk. Bis 1944 kannte außer einigen wenigen Ärzten nur ich die endgültigen Befehle des Reichsführers: bei den Kranken und Kindern zu beginnen und nur die Arbeitsfähigen zu rein wirtschaftlichen Zwecken zu nutzen. Ich widmete mich meiner Aufgabe mit dem festen Willen, meinen SS-Schwur treu zu erfüllen. Daher sind die Juden in den Augen der Kirche keine Ungläubigen, sondern Ketzer, die inmitten unserer Gemeinschaft verstockt auf ihrem Irrglauben beharren, begonnen mit der Kreuzigung unseres Herrn Jesus Christus, und der überall und jederzeit fortgeführt wird durch ihre hartnäckige Weigerung, dem falschen Glauben abzuschwören, durch Menschenopfer von Christenkindern und abscheuliche Schandtaten gegen die heiligen Sakramente, wie der bereits erwähnte Fall der Schändung geweihter Hostien durch den niederträchtigen Josep Xarom. Und darum erteilteich den Schutzhaftlagerführern aller Außenlager von Auschwitz strengste Order: Der Weg war schmal, begrenzt durch die Kapazität der Verbrennungsöfen, die Ausbeute war zu groß, Tausende und Abertausende von Ratten, und wir waren mit der Lösung betraut. Die Wirklichkeit – die dem reinen Ideal immer nur nahekommt – ist, dass die Krematorien I und II zweitausend Stück pro Stunde schaffen und ich, um Pannen zu vermeiden, diese Zahl nicht überschreiten darf.
    »Und die anderen beiden?«, hatte ihn Doktor Voigt vor dem vierten Glas gefragt.
    »Nummer drei und vier sind mein Kreuz: Sie schaffen nicht mehr als eintausendfünfhundert Stück täglich. Die Modelle, für die man sich entschieden hat, haben mich sehr enttäuscht. Wenn die Herren da oben doch nur auf diejenigen hören würden, die etwas von der Sache verstehen … Und das ist keineswegs als Kritik an unseren Führern gemeint, Doktor«, hatte er während des Essens oder vielleicht beim fünften Glas gesagt. »Bei der gewaltigen Arbeit, die vor uns liegt, musste jede Regung, die auch nur im Entferntesten an Mitleid erinnert, bei den SS-Leuten nicht nur im Keim erstickt, sondern zum Wohle des Vaterlands auch unerbittlich bestraft werden.«
    »Und wo landen die … Überreste?«
    »Die Asche laden wir auf Lastwagen und kippen sie in die Weichsel. Tag für Tag schwemmt der Fluss Tonnen von Asche ins Meer, das ja gleichbedeutend ist mit dem Tod – wie uns die lateinischen Klassiker lehren, die wir während des Noviziats in Girona in Fra Anselms unvergesslichen Stunden kennenlernen durften.«
    »Was?«
    »Ich bin nur der Ersatz für den Gerichtsnotar, Exzellenz. Ich …«
    »Aber was habt Ihr da eben vorgelesen, Elender?«
    »Nun, dass Euch Josep Xarom verflucht hat, kurz bevor die Flammen …«
    »Wurde ihm denn nicht die Zunge herausgeschnitten?«
    »Fra Miquel hat es untersagt. Aufgrund seiner Autorität als …«
    »Fra Miquel? Fra Miquel de Susqueda?« Dramatische Pause von der Länge eines halben Ave Maria. »Schafft dieses Aas herbei.«
    Der aus Berlin angereiste Reichsführer Heinrich Himmler zeigte sich rücksichtsvoll. Er war ein weiser Mann, der Verständnis für den Druck aufbrachte, unter dem die Männer des Lagerleiters standen, und großzügig über die Mängel hinwegsah, die mich so bedrückten. Er nickte die tägliche Anzahl an Eliminierungen ab, wenn auch mit besorgter Miene, weil die

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